Das Wolkenvolk 03 - Drache und Diamant
Stern Nuguas gesamtes Sichtfeld aus.
Erst nach einer Weile, während sie nichts anderes tun konnte, als daraufzustarren, und darüber sogar ihre Schmerzen vergaß, erkannte sie, dass es sich um eine Art Kristall handelte. Oder um einen Edelstein. Um den größten Diamanten, den die Welt je gesehen hatte.
»Du bist der erste Mensch, der dies sieht«, sagte Yaozi.
Sie richtete sich in seiner Hornkrone auf, während ihre Hand ein gesplittertes Geweihende umklammerte. Etwas in ihr hatte geahnt, dass es diesen Ort gab, so wie jedes Neugeborene instinktiv wusste, dass es atmen musste, und jeder Sterbende, dass das Ende nicht aufzuhalten war.
Dies war der Ursprung aller Schöpfung.
»Pangus Herz«, sagte Yaozi.
Sie starrte noch eine ganze Weile länger auf die glitzernde Wand, die vor ihr emporragte. Das Goldlicht der Drachen spiegelte sich darin, wurde in tausend Richtungen zurückgeworfen. Yaozi hatte die Grotte durch einen zerklüfteten Eingang betreten, der aussah, als sei er aus dem Fels gebrochen worden. Der Riesendiamant war noch weit entfernt, über zweihundert Meter, und auf dem Höhlenboden bis dorthin wimmelte es nur so von Drachen.
Erst jetzt wurde ihr gänzlich klar, was Yaozi gesagt hatte.
»Sein Herz?« Im Geäst der Hornkrone kletterte sie ein Stück weiter nach vorn, bis keine Geweihenden mehr ihre Sicht verstellten. »Wie kann das da ein Herz sein? Ich meine ... es schlägt nicht, oder? Es kann gar nicht schlagen. Es ist ein Diamant!«
»Ein Stein, ganz recht. Aber Riesen sind enger mit den Bergen verwandt als mit irgendeinem Lebewesen. Und dieser hier, der größte und älteste aller Riesen, wurde selbst zu Stein, als das Gebirge über ihn hinwegwuchs und eins mit ihm wurde.«
Ganz allmählich dämmerte ihr, worauf das alles hinauslief. Ihre Stimme klang, als hätte sie Eissplitter verschluckt. »Wir sind hier unten in Pangu? Du meinst... in seinem Körper?«
»Genau genommen in seinem Brustkorb.«
Sie geriet ins Stammeln, weil die Wirklichkeit an die Grenzen ihrer Vorstellungskraft stieß. »Ich ... ich habe nichts gemerkt... Man hätte doch irgendwas sehen müssen, oder? Irgendeine Veränderung auf dem Weg hierher.«
Yaozi musste noch immer Schmerzen haben, dagegen waren auch Drachen nicht gefeit, aber er sprach jetzt ganz sanft zu ihr. »Der Ur-Riese und dieses Gebirge sind schon vor Äonen miteinander verschmolzen. Es gibt keinen sichtbaren Übergang mehr zwischen beidem. Alles ist Stein geworden. Sogar sein Herz.«
»Aber wenn es dem Aether gelingen würde, ihn zu erwecken, dann ... also, wie ...«
»Wir wissen es nicht. Vielleicht wird dann wieder Fleisch, was einst Fleisch war. Falls es das je war. Wir vermuten, dass Pangu erwachen und das Gebirge sprengen wird wie einen Käfig, in dem er gefangen ist.«
»Solche Kraft hätte er?«
»Er ist der Weltenschöpfer«, sagte Yaozi. »Er hat alle Macht, die wir uns vorstellen können. Und noch mehr. Im Augenblick ist das alles nur Mutmaßung, aber ich habe wenig Zweifel daran ... Das Gebirge wird zerbrechen, dann die ganze Welt und sogar das Gefüge der Wirklichkeit. Pangu hat einst viel mehr erschaffen als nur die Erde, auf der wir stehen, vergiss das nicht. Er schuf den Himmel, das Firmament, die Götter selbst. Darum bezweifle ich, dass sie eingreifen würden, selbst wenn sie noch Interesse an uns hätten.«
»Und die Morde an den Xian? Warum hat der Aether Mondkind gezwungen, die Unsterblichen zu töten?«
»Eine List. Der Aether hat das Mädchen benutzt, um die Götter, oder vielleicht auch nur die anderen Unsterblichen, von diesen Bergen abzulenken. Und von dem, was unter ihnen ruht.«
»Aber es hieß doch, wenn der letzte Xian stirbt, zerreißt die Verbindung zwischen Himmel und Erde. Dass das die größte Gefahr für uns ist.«
»Diese Verbindung ist längst zerrissen, und nicht erst, seit Mondkind den ersten Unsterblichen getötet hat. Die Götter haben die Lust an unseren Geschicken verloren.
Ihre Aufmerksamkeit gilt seit langem schon anderen Dingen, jenseits unserer Welt.« Yaozis Stimme wurde übergangslos hart und bitter. »Sie werden uns nicht im letzten Moment zu Hilfe kommen, so viel ist gewiss. Sie haben die Xian als ihre Statthalter auf Erden zurückgelassen und sind weitergezogen, in andere, entfernte Winkel von Pan-gus Schöpfung. Sie mögen spüren, was hier geschieht, oder auch nicht. Wahrscheinlich ist es ihnen längst gleichgültig, weil sie sogar das Interesse an sich selbst verloren haben.«
Nugua kaute auf
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