Das Wolkenvolk 03 - Drache und Diamant
ihrer Unterlippe, während sie versuchte all das zu verstehen. Sie hätte sich seine Worte gern in Bildern ausgemalt, aber ihre Fantasie reichte nicht aus. Was er sagte, blieb seltsam vage, wie ein Märchen, das ihr erzählt wurde, mit dem sie aber keine Gesichter, keine Farben, keine Landschaften verbinden konnte. Schon gar nicht ihr eigenes Schicksal.
»Der Tod der Xian ... das alles ist nur geschehen, um von diesem Ort abzulenken?«, fragte sie. »Aber warum? Wie hätte der Aether ohne euch in die Dongtian gelangen können?«
Yaozi wiegte leicht den Kopf. »Die Verbindung zwischen dem Aether und Pangus Herz war bereits hergestellt, als ich und die übrigen Clans hier ankamen.« Er schnaubte und es klang niedergeschlagen. »Zugolu, der Drachenkönig des Westens, und sein Clan haben lange in einigen dieser Höhlen gehaust. Ihnen ist zu spät klar geworden, dass der Aether über ihren Atem versucht hat zu Pangus Herz vorzustoßen. Zugolu sandte einen Hilferuf an alle Clans aus und so kamen wir her, um ihm beizustehen. «
»Also macht euer Atem in diesen Höhlen gar keinen Unterschied mehr?«
»Nein. Aber unsere Anwesenheit kann Pangus Erwachen beschleunigen - falls es uns nicht gelingt, ihn vorher aufzuhalten.« Trauer färbte seine dunkle Drachenstimme. »Viele von uns haben bereits ihr Leben gelassen und viele werden noch sterben. Vielleicht alle. Darum wollte ich nicht, dass du uns begleitest, Nugua. Dieser Ort hier mag mit all diesen Drachen aussehen, als wäre er voller Leben - doch in Wahrheit herrscht hier nur der Tod.«
Nugua starrte in die Grotte. Ihre Augen hatten sich endlich an das grelle Goldlicht gewöhnt, soweit das möglich war.
Viele der Drachen in dem Höhlendom, rings um das gewaltige Diamantenherz, regten sich nicht. Manche lagen mit erschlafften Fühlern und eingerollten Leibern da, die Köpfe auf der Seite, die Augen halb geschlossen oder zu einem blinden, leblosen Blick ins Leere aufgerissen.
Noch ehe sie begriff, was das tatsächlich bedeutete, fiel ihr Blick auf den Bereich zwischen dem Eingang und der aufragenden Wand aus Edelstein, und was sie dort entdeckte, trieb ihr abermals Tränen in die Augen. Vier Drachen lagen dort eng beieinander. Nugua erkannte sie sofort, denn genau wie Menschen glich auch kein Drache einem anderen.
Da war Tsiguru, der sie gelehrt hatte, wie man Regentropfen zählt. Paupau, von dem sie wusste, wovon die
Bäume in der Dämmerung sprachen. Oruru, der sich einmal an einer Kralle verletzt und sie gebeten hatte, die Wunde mit Blättern zu bedecken, nur um ihr das Gefühl zu geben, ein wichtiges Mitglied des Clans zu sein. Und Mapatu, der Älteste, der schon Yaozi die Demut vor den Bergen und Wäldern gelehrt hatte, einst, als der künftige Drachenkönig noch jung und unbesonnen gewesen war.
Während Nugua Tränen über die Wangen liefen, wanderte ihr Blick weiter. Nun erkannte sie immer mehr leblose Körper zwischen den anderen Drachen.
»Warum bringt niemand sie fort?«, flüsterte sie. »Warum liegen sie noch immer da, wo sie gestorben sind?«
Der Drachenkönig senkte die Stimme, bis sie ihn gerade noch verstehen konnte. »Uns bleibt keine Zeit dazu. Jeder, der stark genug wäre, sie nach oben zu bringen, wird hier gebraucht. Dass du mich in den letzten Tagen kaum zu Gesicht bekommen hast, hat nichts damit zu tun, dass ich dir aus dem Weg gegangen wäre. Auch wenn du das vielleicht geglaubt hast.«
Sie fühlte sich ertappt, aber was bedeutete das schon in Anbetracht dessen, was hier geschah.
»Ich war hier, mit vielen von den anderen«, sagte der Drache. »Hier unten findet der wahre Krieg gegen den Aether statt. Hier wird über das Heil oder den Untergang der Welt entschieden.«
Ihr tränennasser Blick löste sich nur widerwillig von den toten Drachen und tastete jetzt wie von selbst über all jene, die noch am Leben waren. Was ihr vorher wie eine wimmelnde Masse vorgekommen war, eine Versamm-lung, deren Zweck sich ihr nicht erschlossen hatte, wurde vor ihren Augen zu einem Heer. Einer Armee, die mit Hilfe ihrer Drachenmagie gegen etwas kämpfte, das aus ihr selbst hervorgegangen war. Gegen ihren eigenen Atem. Gegen den Aether.
Es war keine Schlacht, die mit Waffen geschlagen wurde. Nicht mit Götterschwertern oder der Lanze eines Unsterblichen.
In dieser Grotte, im Kampf um Pangus Herz, prallten Zauberkräfte aufeinander wie die Brandung zweier Ozeane. Wenn die Magie der Drachen und die Magie des Aethers zwei Meere waren, dann hatte jemand den
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