Das Wolkenvolk 03 - Drache und Diamant
Sonnenaufgang zu beobachten. Sie brauchte diese Augenblicke der Ruhe heute nötiger als jemals zuvor. Die Stunden, die sie unten beim Aetherfragment verbracht hatte, konnte sie längst nicht mehr zählen. Das Schlimmste dabei war sein törichter Wankelmut. Am einen Tag zeigte es sich nachgiebig und voller Verständnis für Alessias Sorge um das Volk der Hohen Lüfte; am nächsten war es schon wieder ganz mit sich selbst beschäftigt, ließ keinerlei Einwände zu und bestand darauf, den Auftrag des Aethers auszuführen.
Wie es sich letztlich entscheiden würde, war noch immer nicht abzusehen. Fest stand, dass es die Insel weiterhin auf einem Kurs steuerte, der sie dem finalen Ziel näher und näher brachte: jenem Ort, an dem der Aether die Insel als Waffe einsetzen wollte, indem er sie aus zweitausend Metern Höhe auf die Erde hinabstürzen ließ.
Wie sie es drehte und wendete - sie trieben nach Nordwesten, den Bergen entgegen, auf einem unaufhaltsamen Kurs in den Untergang.
Das Gebirge rückte langsam näher. Nach der monotonen Weite der Wüste war Alessia beinahe dankbar dafür; auch wenn sie zu dem Schluss gekommen war, dass die Wolkeninsel in Sicherheit war, solange sie über der Taklama-kan schwebte. Dort unten gab es nichts, das ein Absturz der Insel hätte zerstören können. Nur Sand in allen Himmelsrichtungen, nur Ödland und Leere.
Von der Balustrade der Aetherpumpe blickte sie gedankenverloren den Bergen entgegen und dachte nach, welches Argument sie bislang außer Acht gelassen hatte. Irgendetwas musste es doch geben, mit dem sie das Aether-fragment überzeugen konnte. Irgendeinen Gedanken, auf den sie noch nicht gekommen war, ein neues Gefühl, bei dem sie es packen konnte.
Ihr Blick löste sich vom Gebirge und strich über die Wüste. Düne auf Düne auf Düne, verwehte Hügel und sanfte Täler, aus denen die aufgehende Sonne die Schatten vertrieb.
Sie hob das Kinn und blinzelte ins Morgenlicht. Etwas war anders. Sie brauchte einen Moment, ehe sie erfasste, was es war. Sie verschluckte sich an ihrem eigenen Atem, zog sich am Geländer auf die Füße, traute ihren Augen aber noch immer nicht.
Ihre Blicke suchten Vergleichspunkte am Boden, zogen unsichtbare Linien zwischen markanten Dünenkuppen und dem Rand der Wolkeninsel. Sie wusste, wenn sie sich auch nur einen Hauch von Erleichterung gönnte und sich täuschte, dann würde sie sich das nie verzeihen. Schlimmer - sie würde womöglich nicht mehr die Kraft aufbringen, sich dem Aetherfragment erneut zu stellen. Sie war des Disputs längst überdrüssig und jede falsche Hoffnung würde sie aus ihrem monotonen Gesprächstrott reißen. Sie musste vollkommen sicher sein, bevor sie sich auch nur ein Aufatmen erlaubte, jede noch so zarte Zuversicht.
Zitternd wartete sie ab. Beobachtete.
Nichts tat sich. Minutenlang. Fast vergaß sie darüber das Atmen, war von Kopf bis Fuß so angespannt, dass ihre Muskeln schmerzten.
Die Wolkeninsel hing am Himmel über der Taklama-kan, von den ersten heißen Winden des Tages umtost - und sie bewegte sich nicht mehr!
Alessia stieß einen jubelnden Laut aus, mühte sich auf die Beine und wollte gleich hinab zum Aetherfragment, Hunderte von Metern unter ihr im Herzen der Wolke. Aber sie wagte nicht, den Blick vom Rand der Insel und den Dünen darunter zu nehmen, aus Angst, sie könnte sich im selben Moment wieder in Bewegung setzen. Wie die Erinnerung an einen uralten Aberglauben machte sich in ihr die irrwitzige Befürchtung breit, dass es an ihr liegen könnte, an ihr ganz allein. Dass jemand oder etwas sie prüfen wollte oder sich einen bösen Scherz mit ihr erlaubte. Dass sie weiterfliegen würden, sobald Alessia Schwäche zeigte und den Blick vom Boden abwandte.
Reiß dich zusammen, schalt sie sich. Sei keine Närrin! Es hat endlich auf dich gehört! Es gehorcht dem Aether nicht mehr und lässt euch alle am Leben!
Sie musste sich zwingen, den Kopf zu bewegen und vom Boden fort zum Horizont zu blicken, hinüber zu den schroffen Berggipfeln jenseits der Wüste.
Und dort entdeckte sie noch etwas.
Das Beben und Zittern begann von neuem, aber nun war sie nicht mehr sicher, ob es allein an ihr lag oder ob nicht vielmehr der Himmel selbst ins Wanken geriet. Die Härchen auf ihren Armen stellten sich auf und mit einem Mal lag ein ganz leises Knistern in der Luft. Elmsfeuer tanzten über das Geländer. Sie schrak zurück, als sich der Kranz aus kleinen weißen Flammen rund um die Balustrade schloss. An anderen
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