Das Wolkenvolk 03 - Drache und Diamant
gelangen. Er brauchte zwei Anläufe, ehe er durch die Öffnung glitt und dabei achtlos die Leichen einiger Juru vor sich herschob wie ein Schiffsbug, der durch tote Fische pflügt.
»Xixati!«, rief Niccolo ihm entgegen, übertönt vom Lärm der Beben. Staub und kleine Steine regneten von der Höhlendecke. »Was sollen wir tun?«
Der Drache hielt auf ihn und Mondkind zu, hin und her geschleudert vom Felsboden, der vor Niccolos Augen Wellen schlug wie eine ausgeschüttelte Wolldecke. Er selbst drückte seinen Rücken mit aller Kraft gegen die Seite des Podests und zog Mondkinds reglosen Leib fester an sich; er versuchte die Knie anzuwinkeln, um das Mädchen zwischen Beinen und Oberkörper einzuklemmen, aber das verringerte seinen Halt am Boden und hätte ihn beinahe zur Seite geworfen.
Xixatis Schädel tauchte vor ihm aus dem wirbelnden Staub wie der goldene Rammsporn einer Kriegsgaleere. Sein Glanz machte sichtbar, was bislang verborgen geblieben war: Überall um sie herum gingen Hagelschauer aus Gestein nieder, nicht länger nur winzige Bruchstücke, sondern kopfgroße Brocken, die Kerben in den Boden hieben und schwer genug waren, einem Menschen den Schädel zu spalten.
»Was -«, stieß Niccolo gerade noch aus, als der junge Drache in einer blitzschnellen Bewegung an ihnen vorüberglitt und einen Ring um das Felspodest und die beiden Menschen an seinem Fuß bildete. Wie eine Würgeschlange zog er sich enger um sie zusammen, bis die goldene Mauer seines Schuppenleibes unmittelbar vor Niccolo emporragte; er musste nun doch noch die Füße anziehen, damit sie nicht unter Xixati zermalmt wurden. Mit dem vorderen Teil seines Körpers bildete der Drache einen zweiten Ring über dem ersten, darüber einen dritten, bis seine Windungen pyramidenförmig wie ein Bienenstock übereinanderlagen. Zuletzt schob er seinen Schädel durch die Öffnung in der Spitze. So bildete er mit seinem Leib eine schützende Kuppel über Niccolo und Mondkind, während sein eingezogener Drachenkopf von oben auf sie herabblickte.
»Rührt euch nicht von der Stelle«, sagte er, während die Erschütterungen an Gewalt zunahmen. Durch die Win-düngen des Drachenkörpers drang Donnern und Krachen an Niccolos Ohren. Xixati fing die schlimmsten Brocken mit seinem Körper ab. Als Niccolo aufblickte, sah er, dass sich das Gesicht des Jungdrachen unter Schmerzen verzog.
»Was, wenn der ganze Berg zusammenbricht?«
Xixati gab keine Antwort.
Niccolo schloss die Augen und beugte den Kopf schützend über Mondkinds Gesicht.
Stürzende Schatten
Wisperwind bemerkte zuerst den Schatten, der um sie herum immer größer wurde. Dann sah sie den trudelnden Felsbrocken auf sich zustürzen, stieß sich im letzten Augenblick ab und raste im Federflug aufwärts. Hinter ihr krachte Gestein auf Gestein, als der kleine Brocken mit dem sehr viel größeren kollidierte, der ihr als Zuflucht diente.
Der Zusammenstoß erschütterte den Fels und drohte ihn aus seiner Flugbahn zu stoßen. Für einen Moment schwebte Wisperwind im Nichts und spürte das Zerren der Strömungen, die das sandfarbene Chaos durchzogen. Mit einem Fluch zwischen zusammengebissenen Zähnen gab sie ihrem Federflug eine neue Richtung, raste wieder auf den Brocken zu und musste zugleich den Trümmern des kleineren Felsens ausweichen, der bei der Kollision in Stücke zerborsten war.
Auf allen vieren kam sie auf und federte mit Knien und Armgelenken nach, um den Aufprall abzufangen. Mehrere Sekunden lang blieb sie in dieser Position, alle Nerven und Muskeln zum Zerreißen angespannt. Gehetzt blickte sie sich um, suchte nach weiteren Felsen auf Kollisionskurs, atmete tief ein und aus. Nichts. Keine weiteren Schatten, die sich plötzlich über sie legten und größer und größer wurden.
Seit Guo Lao aufgebrochen war, um Feiqing auf seinem Kranich an Bord der Abendstern in Sicherheit zu bringen, war eine Ewigkeit vergangen. Wisperwind gab sich keinen Illusionen hin: Die Chancen der beiden standen nicht gut. Sie hielt es für nahezu unmöglich, dass das Flaggschiff der Geheimen Händler das Auseinanderbrechen des Gebirges überstanden hatte. Mehr als einmal hatte sie Überreste von Gildenschiffen an sich vorübertreiben sehen. Doch Guo Lao hatte es dennoch versuchen wollen. Er war überzeugt, dass die Katastrophe örtlich begrenzt war und sich erst allmählich auf die ganze Welt ausweiten würde. Woher er diese Gewissheit nahm, wusste sie nicht. Vermutlich steckte eine gehörige Portion
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