Das Wolkenzimmer
großartiges Ende!
Aber dann lässt das Gewitter nach und ein schwerer Regen prasselt herunter.
Der Amerikaner kommt herein. Veronika kauert auf dem Boden in der Fensterecke. Er berührt ihre Schulter. »Was ist los? Hast du dich gefürchtet?«
»Nein«, sagt Veronika und hebt den Kopf. »Nein, nein.«
»Was dann?«
Sie dreht das Gesicht zur Wand.
»Lady...« Er bricht ab. »Ich muss hinunter und absperren. Oder kann ich es dir anvertrauen?«
Er wartet einen Moment auf Antwort, dann geht er hinaus. Veronika hört die Schlüssel klirren. Das Glöckchen bimmelt, wie den ganzen Tag schon, die Schritte des Amerikaners verlieren sich nach unten. Sie lauscht ihnen nach, bis sie nichts mehr hört. Dann rollt sie sich in der Ecke zusammen, in der sie gekauert hat.
Es wäre so einfach gewesen.
Mit Mattis leben - oder tot sein. Dazwischen gibt es nichts. Da sie nun aber nicht tot ist... Ja, da sie nicht tot ist, hat Mattis gar nichts versäumt, er hat noch jede Chance. Das heißt, sie beide haben noch jede Chance, es kann alles gut werden, er muss nur kommen und sie finden.
Veronika springt auf. Sie kramt in ihrem Reisesack. Als der Amerikaner zurückkehrt, hat sie ein Foto in der Hand.
»Das ist Mattis. War er vielleicht schon einmal hier?«
Der Amerikaner wirft einen kurzen Blick auf das Bild und einen längeren auf Veronika. »Du hast gesehen, nicht wahr, wie viele Menschen jeden Tag heraufkommen?«, sagt er geduldig. Und dann, als sie den Kopf hängen lässt: »Nein, er war nicht hier. Glaube ich.«
Veronika nickt und legt das Foto auf den Tisch. Es zeigt Mattis auf ihrem Balkon. Der Wind fährt ihm in die Haare, und er hat die Brille in der Hand und reibt sie mit einem Papiertaschentuch blank, denn beim Küssen sind Fettflecken auf die Gläser geraten. Er hätte die Brille vorher abnehmen sollen, und genau das kann man in seinem Blick lesen, aber noch viel mehr; man kann auch lesen, was gleich passieren wird: Er wird ihr den Fotoapparat entwinden und mit seiner Brille zusammen auf ihren Schreibtisch legen, dann wird er sie in die Arme nehmen und küssen, bis sie beide auf ihrem Bett landen - das steht verheißungsvoll drohend in seinen dunklen Augen, die sie von unten anschauen. Und sie wird gerade noch Zeit haben, den Schlüssel in ihrer Zimmertür umzudrehen. Es ist Sonntag, und ihre Eltern sind zu Hause, und obwohl die ja niemals hereinkommen, ohne anzuklopfen, schließt man doch besser ab. Schon wegen Simon, der sich brennend dafür interessiert, was seine große Schwester hinter verschlossenen Türen treibt.
An diesem Sonntag haben ihre Eltern sogar extra viel Takt bewiesen: Sie haben nicht Simon nach oben geschickt und klopfen lassen, sondern stillschweigend Mattis’ Wagen, in dem der Zündschlüssel steckte und der die Einfahrt blockierte, weggefahren, damit sie ihr Garagentor öffnen konnten.
Veronika sieht das Foto lange an. Dann hebt sie den Kopf.
»Ich lasse das Bild hier liegen. Damit Sie sein Gesicht kennenlernen«, sagt sie und findet das eine gute Idee, denn so kann auch sie Mattis ansehen, wann immer sie will.
Beim Essen fängt sie auf einmal zu weinen an.
Der Amerikaner blättert seine Zeitung um und isst ruhig weiter.
Ihre Tränen versiegen so schnell, wie sie gekommen sind - man weint nicht vor einem, der unbewegt von seinem Brot abbeißt. Veronika wendet sich zum Fenster, hinter dem es noch immer regnet. Sie zieht die Beine herauf und vergräbt den Kopf in den Armen.
»Sie sind doch auch allein«, sagt sie dumpf. »Ich weiß ja nicht, wie Sie das aushalten...«
»Es gibt keinen Menschen, der nicht allein wäre«, sagt der Amerikaner.
Sie schaut erschrocken auf. »Das glaube ich nicht!«
»Du erfährst es gerade.«
»Ich glaube es nicht! Wenn Sie wüssten, wie das mit Mattis und mir war! Ein ganzes Jahr waren wir zusammen, bevor...«
»Hm?«, macht er, während er die Zeitung faltet.
»... jemand dazwischenkam«, bricht es aus ihr heraus. »Mattis war mal ein Jahr an einer amerikanischen Schule. Seit er zurück ist, sind wir zusammen. Aber dann - weil das ja nach dem Austauschprinzip läuft - kam eine Amerikanerin zu ihm. Zuerst konnte er nichts mit ihr anfangen, sie war ihm irgendwie zu alt und interessierte sich für Kunst. Auf einmal hat er dann aber angefangen, sie herumzufahren, er war dauernd mit ihr irgendwo unterwegs und hatte keine Zeit mehr für mich. Und jetzt macht er plötzlich ein Jahr Auslandsstudium! Und ich weiß ja gar nicht, ob er
Weitere Kostenlose Bücher