Das Wolkenzimmer
zurückkommt...«
»Von allen Gründen, von einem Turm zu springen, ist das der blödeste.«
Veronika zuckt zusammen und starrt den Amerikaner an, der das Wort mit keinem Lächeln abschwächt. Da entschlüpft ihr ein weher Laut und sie schiebt die flache Hand über den Tisch und zieht das Foto an sich. Mattis mit seinem Blick von unten und den windzerzausten Haaren, mit seinen Lippen, die etwas versprechen, und mit seiner Brille, die er ständig putzt - ein Tick, über den sie schon oft gelacht hat … Mattis, so vertraut und zugleich auf einmal so fremd:
Doch, Mattis ist ein guter Grund.
16
Der Junge spürt sein Herz nach unten fahren, schneller, als er imstande ist, einen einzigen Schritt zu tun. Und da ist es schon zu spät, der Einarmige hat ihn in eisernem Griff, er ist aus einer dunklen Türnische getreten, die der Junge einfach übersehen hat.
Er wehrt sich nicht. In beinahe zehn Lebensjahren hat er gelernt, wann es angebracht ist, sich nicht zu widersetzen, wann man besser auf die nächste Chance wartet. Wer bei Fremden lebt, die schon genug eigene Esser haben, lernt - oder geht ein.
»Du weißt, dass ich dich hinunterbringen muss?«, sagt der Einarmige und schiebt mit dem Fuß eine Feuerklatsche zur Seite.
»Warum?«
»Weil ich sonst dran bin!«
Der Junge schüttelt schnell den Kopf. »Mich hat niemand gesehen...«
»Das glaubst du!«
Der Einarmige mustert mit zusammengezogenen Brauen einen Haufen Löschsand am Boden und die Spuren von Kinderfüßen an seinem Rand. Von da schaut er zur Wendeltreppe, an dem Jungen vorbei. »Aber dass sie noch nicht hier sind... Und dass du überhaupt reingekommen bist! War die Tür nicht abgeschlossen?«
»Sie war offen.«
»Man sollte der Organistin den Schlüssel abnehmen! Du schaust jetzt, dass du hinauskommst.«
»Darf ich noch ein wenig bleiben?«, sagt der Junge. »Nur ein wenig? Bis sie weg sind?«
»Raus mit dir. Ich will nicht für dich sitzen.«
»Aber Sie sind doch immer da ganz oben, Sie haben mich nicht gesehen...«
»Ich habe euch alle gesehen, ich bin ein Frühaufsteher! Wieso bist du überhaupt weggelaufen?«
»Aua, mein Arm«, sagt der Junge. »Die haben uns abgeholt!«
»Was willst du dann noch hier? Lauf zum Bahnhof, sonst sind deine Leute weg!«
»Ich will nicht! Die schlagen zu, ich hab ihre Augen gesehen, ich weiß, dass die zuschlagen! Und schießen...«
Der Einarmige sagt nichts. Er stößt den Jungen vor sich her, abwärts, abwärts, die ewig gleichen Wendelstufen hinab. Sein Schlüsselbund klirrt. Unten sieht er etwas: den Keil. Er starrt ihn ungläubig an. Dann tritt er ihn mit dem Schuh los. »Bürschchen!«, sagt er durch die Zähne. »Du bist ja ein ganz Schlauer. So, und jetzt mach die Tür auf!«
»Aber sie sind auf dem Platz, sie sind überall!«
»Mach die Tür auf!«
Der Junge zittert.
»Und die Kirche?«, brüllt jemand draußen.
Eine andere Stimme antwortet: »Alle Türen abgesperrt!«
»Der Turm?«
»Auch zu!«
Stiefelschritte auf dem Pflaster, ganz nah, ein kurzes Hin und Her, alles so nah, gedämpft allein durch eine unversperrte Tür.
Der Einarmige verfolgt es mit gehetztem Blick und ist auf dem Sprung. Als sich die Schritte entfernt haben, lehnt er an der Wand und atmet schwer.
Der Junge schaut ihm ins Gesicht, in die Augen, er wagt nicht zu schlucken, denn die Chance ist so gering.
»Verfluchter Judenbengel. Aber nur, bis alles ruhig ist! Und wenn sie dich finden - ich habe dich nicht gesehen!« Der Einarmige bückt sich und steckt den Keil in die Kitteltasche. »Du bleibst unten, verstanden? Genau hier, hinter der Tür!«
17
Der Amerikaner hat alle Sicherheitssysteme überprüft und seine morgendliche Wettermeldung durchgegeben: Regen, kein erkennbarer Wind, neunzehn Grad. Beim Frühstück schweigt er.
Veronika beobachtet mit Sorge, was er macht: Er bereitet ein Lunchpaket vor.
»Fliege ich raus?«, fragt sie endlich beklommen.
»Wie?« Er schaut auf. »Ob du... Aber nein. Ich möchte dich um etwas bitten.« Er ist fertig, das Lunchpaket liegt zwischen ihnen auf dem Tisch. »Kannst du heute den Kartenverkauf übernehmen?«
»Was?«
»Es ist ein besonderer Tag, den ich gern auf besondere Weise verbringen würde. Genau gesagt: Ich möchte niemanden sehen.«
»Oh«, sagt Veronika. Und dann: »Natürlich mache ich den Kartenverkauf!«
»Gut.« Der Amerikaner steht auf und nimmt den Brotbeutel mit hinaus. Er schließt den Schreibtisch auf und legt die Billettrolle heraus.
Veronika ist
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