Das Wolkenzimmer
Schweinerei in Gummihandschuhen nähert.
Die Mülltonne holen städtische Arbeiter ab, sie wird mithilfe eines elektrischen Aufzugs von der Toilettenetage durch die Turmmitte hinabgelassen, per Knopfdruck. Während daneben noch die Spindel intakt ist und denselben Dienst tun könnte, sagt der Amerikaner, eine kluge Vorrichtung von früher. Erst als er das erwähnt, sieht Veronika, dass es sich bei der Spindel nicht um eine gewöhnliche Holzsäule handelt, die das Turmgebälk stützt, sondern dass sie auf einem Metalldorn steht und um sich selbst gedreht werden kann. In praktischer Zugreifhöhe ist sie durchbohrt, durch das Loch steckt man eine Stange, an der ein Mensch ansetzen und die Spindel drehen kann, die ihrerseits mit ihrem oberen Ende einen Zahnkranz bewegt, der in einen anderen greift, und der nun wickelt ein Seil ab, das in den Schacht geleitet wird.
»Genial«, sagt Veronika beeindruckt.
Der Amerikaner nickt. »Ich könnte dir etwas erzählen!«
Er tut es dann aber doch nicht, sondern dreht sich um und geht die Stiege zur Türmerstube hinauf. Seit seinem Geburtstag passiert ihm das manchmal: Er fängt einfach zu reden an. Aber dann muss ihm wohl eingefallen sein, dass er eigentlich ein reservierter Mensch ist, und er bricht wieder ab. Oder die Antwort fällt schroff aus, wie die auf ihre Frage nach dem riesigen alten Tretrad: Das sei ein mittelalterlicher Lastenaufzug, den Häftlinge angetrieben hätten, glückliche Häftlinge, und sonst sei dazu nichts zu sagen.
Veronika gibt dem Amerikaner ein Buch zurück, in dem sie gelesen hat. Es stammt aus dem Regal über seinem Bett, aus einer Sammlung von amerikanischen Romanen und Theaterstücken, die interessant oder spannend oder sonst etwas sein mögen, aber nicht genügend Faszination auf sie ausüben, um sie dauerhaft von ihrem Tagtraum abzulenken. Wenn sie Englisch so mühelos lesen könnte wie Mattis, dann vielleicht.
»Die Sonnenbräune steht dir gut«, bemerkt der Amerikaner, bevor er sich umdreht und das Buch wieder einordnet.
Er hat ihr noch nie etwas Nettes gesagt. Oder falls doch, dann sicher nicht für ihr Aussehen. Sie fährt sich verlegen durch die Haare. Sie ist struppig wie ein Rauhaardackel, noch struppiger als bei ihrer Ankunft, das kommt von der Sonne. Aber gut, um sich von Miss Seidenhaar zu unterscheiden.
»Kann ich ein anderes Buch haben?«, fragt sie, während das kleine Kompliment sie wie ein Flämmchen von innen erwärmt. »Irgendwas Leichtes. Bitte«, fügt sie hinzu.
»Lass mich sehen, was ich für dich habe«, sagt er. »Übrigens, die Blumen sind nicht mehr schön.«
Veronika sieht den welken Strauß und schafft ihn zum Müll. Sie säubert das Einmachglas und stellt es dem Amerikaner auf den Tisch. »Jetzt haben Sie es wieder. Für Ihre Steinchensammlung.«
Er legt ihr einen Kurzgeschichtenband hin. Dann fischt er ein paar Gesteinsbröckchen aus seiner Hosentasche und lässt sie ins leere Glas fallen. »Nichts vergeht«, sagt er und stellt das Glas auf den Kachelofen. »Es ändert sich nur ständig. Fünfzehn Millionen Jahre...« Er rückt das Glas zurecht. »So alt ist das Gestein. Vor ein paar Augenblicken hat man es behauen und jetzt zerbröselt es schon.«
»Vor ein paar Augenblicken?« Veronika lacht.
»Gemessen an den fünfzehn Millionen.«
»Ach so.«
»Willst du etwas sehen?« Er steht auf und winkt ihr mitzukommen.
Neugierig, was es diesmal sein mag, folgt sie ihm hinaus und zur Treppe. Der Amerikaner geht schweigend eine Stiege um die andere hinab. Veronika kommt der Gedanke, er könnte sie zum Steinbruch führen, von dem in der Touristenbroschüre die Rede ist. Mit dem alten Gestein haben sich sogar NASA-Astronauten beschäftigt, hat sie gelesen. Vielleicht will er ihr das zeigen.
Doch als der Amerikaner stehen bleibt, haben sie erst den halben Turm hinter sich gebracht. Er wartet, bis sie neben ihm ist, und zeigt ihr die gegenüberliegende Turmwand. Auf die Quadersteine hat jemand mit Kreide zwei Jahreszahlen geschrieben, 1942 und 1994.
Veronika hat sie oft genug gelesen. Irritiert sagt sie: »Das sind aber keine Millionen, sondern gerade mal zweiundfünfzig Jahre.«
»Nein, doch nicht die Kreideschrift. Schau dir die Quader an! Jeden einzelnen. Vielleicht findest du das in Stein gehauene Zeichen.«
»Was?« Veronika verengt die Augen. Sie entdeckt nach einer Weile eine strichähnliche Vertiefung, die ihr nicht zufällig vorkommt, und dann sieht sie plötzlich weitere solcher Zeichen.
»Ich habe
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