Das Wolkenzimmer
der Zweite muss der Einarmige sein und einer von beiden geht heftig hin und her. Weit kann er nicht kommen, da der feste Boden kurz hinter der Tür aufhört und es dann nur noch Balken gibt. Jaschas Herz klopft jetzt nicht allein in der Brust, sondern will zur Schädeldecke hinaus. Ob der Mann auf den Balken gehen und sich um die Pfosten winden und bis ans andere Ende des Raumes kommen wird?
Da hört er plötzlich ein merkwürdiges Geräusch wie zischenden Dampf: ein Hecheln, das zum Bellen wird und sich mit scharfen Befehlsworten mischt. Jascha drückt die Augen zu, den Mund auch, damit kein Laut herauskommt, er möchte völlig im Trichter verschwinden, aber die Steine nehmen ihn nicht auf.
Die Männer überschreien das Gebell, sie wollen, dass der Hund weitersucht. Aber sie und der Hund kommen dann doch nicht näher, sie bleiben an der Tür, der Hund möchte wohl, aber er kann vielleicht nicht auf Balken laufen, und deswegen bellt er sich heiser. Auf einmal geschieht ein Wunder: Der Lärm weicht in den Turm zurück, die Tür wird mit einem Knall geschlossen und zugesperrt.
Jascha bleibt unbeweglich liegen. Ihm ist eiskalt und zugleich glühend heiß, und wenn er nicht sofort die Hose öffnet, passiert etwas.
Die Steine werden dunkel von seinem Wasser, sie saugen alles auf. Jascha sucht sich einen anderen Trichter, richtet sich dort ein und denkt an Hermann; wenn der ihn jetzt sehen könnte... Hermann würde aufatmen, denn Jascha ist unsichtbar geblieben.
25
In einer Woche ist Mattis’ Flug. Er wird spätestens am Wochenende, an diesem Wochenende, aus Italien zurückkehren und seine Sonnenbräune wird ihre in den Schatten stellen. Veronika wagt es jetzt nicht mehr, den Turm zu verlassen. Mattis wird doch wohl kaum den allerletzten Tag für die Heimreise wählen, er wird ein paar Tage früher fahren und sie auf dem Turm suchen und finden und mitnehmen - das ist jedenfalls denkbar.
Die Unruhe treibt sie umher, schon am Morgen. Sie geht hinunter, die Brötchen zu holen.
»Dreihundertdreiundvierzig«, sagt sie außer Atem, als sie zurück ist. »Die Treppe zum Kranz mitgerechnet.«
Der Amerikaner bereitet seine Theke vor.
»Es waren einmal so viele Stufen, wie das Jahr Tage hat«, sagt er.
»Waren?«
»Ja. Ein kleiner Umbau. Ist nicht wichtig.« Er setzt sich und schaut sie nachdenklich an. »Ein Käfer, wenn der jeden Tag eine Stufe schaffen würde, wäre er nach einem Jahr oben. Nach einem weiteren Jahr wieder unten. Wenn er noch einmal hinaufkrabbelt, sind drei Jahre vergangen. - So dummes Zeug stelle ich mir manchmal vor.«
Veronika lacht und trägt die Bäckertüte hinein.
»Der Käfer hält das Innere vom Turm für die Welt. Glaubst du nicht auch?«, ruft er ihr nach.
»Ja. Aber nur, wenn er nie ans Fenster krabbelt und runtersieht.«
»Ein schönes Bild, das du mir da malst.« Der Amerikaner folgt ihr in die Küche. »Der Käfer am Fenster. Wie er große Augen kriegt...« Die Teekanne in der Hand, beobachtet er sie. »Siehst du ihn?«
»Nein«, sagt sie unwillig. Sie greift nach dem Holzbrett, das ihnen als Tablett dient, belädt es und trägt es zum Frühstückstisch.
Der Amerikaner bringt die Kanne. »Geh doch mal nach oben. Umrunde den Turm«, schlägt er vor.
»Sie wissen, dass mir furchtbar schwindlig wird.«
»Eben deshalb«, sagt er.
Veronika schiebt sich auf ihren Platz. »Wollen Sie mich erziehen?«
»Wie käme ich dazu?«
»Doch. Sie wollen mich erziehen! Sie wollen mir sagen, dass ich ein beschränkter Käfer bin und dass Mattis nicht die Welt ist...«
Sie beißt sich auf die Unterlippe, die plötzlich zittert.
Er scheint es nicht zu bemerken. »Was hast du denn Gutes mitgebracht?«, fragt er und versucht, in die Bäckertüte zu sehen.
Veronika schüttelt verstimmt den Kopf. Sie leert die Tüte über dem Brotkorb aus. Ein Brötchen rollt über den Tischrand.
»Ich finde es unfair, dass Sie mich durchschauen und ich Sie nicht. Wir sollten mal Truth or Dare spielen.«
»Truth or Dare?« Der Amerikaner bückt sich und hebt das Brötchen auf.
»Ein Partyspiel«, knurrt sie.
»Ah ja. Dann sag mir doch jetzt, warum du nicht einfach nach Hause gefahren bist. The truth.«
»Weil ich glaube, dass Mattis mich hier...«
»Nein, das ist nicht der wahre Grund.«
Veronika starrt ihn an. »Wenn das nicht der wahre Grund ist, welcher soll es dann sein?«
»Das ist die Frage.«
Sie kämmt sich mit den Fingern die Haare nach vorn. Dann widmet sie sich finster ihrem
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