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Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irma Krauss
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sie. Sie sind unterschiedlich. Sie sind nicht auf jedem Quader. Jemand hat sie mit einem Meißel reingehauen. Ich frage mich nur, wie er an die Wand kam. Gibt es so eine hohe Leiter?«
    »Die Zeichen wurden gesetzt, bevor man den Turm gebaut hat.«
    »Oh...!«
    Der Amerikaner lächelt. »Ich sehe, du fühlst die Dimension. Du bist älter als der Turm, in diesem Moment, du siehst den Mann im Steinbruch, du siehst ihn in den fertigen Block sein Zeichen schlagen, als Nachweis seiner Arbeit.« Der Amerikaner hält inne, seine Augen suchen die Zeichen, und während sein Blick über die Wand gleitet, formuliert er seine Gedanken für Veronika. »Wenn ein großer Meister, sagen wir: Michelangelo, eine unvergängliche, einzigartige Marmorfigur geschaffen hat, dann kennt sie die ganze Welt, sie ist ja höchste Kunst. Das da drüben hingegen« - er weist mit einer Kopfbewegung über den Schacht - »ist einfache Handwerksarbeit, verrichtet von Namenlosen. Von Männern, deren Schweiß auf den Stein tropfte, den sie zu Recht als ihr Werk kennzeichneten, nachdem sie ihn behauen hatten. Sie schufen keine unsterblichen Figuren, die man in den Museen bewacht, nicht einmal einfache Wasserspeier, sie schlugen nur Bausteine, Dutzendware. Bedenke, wie viele man davon brauchte«, sagt der Amerikaner zu Veronika, von den eigenen Worten anscheinend so gefesselt, dass er nicht einmal prüft, ob sie beeindruckt ist oder am Ende gar nicht zuhört. »Bedenke das. Und doch gab jeder Mann seinem  Werk ein unverwechselbares persönliches Zeichen. Sein Material war härtester Stein, ein Glück, und ist unverändert erhalten geblieben. Du findest das Zeichen, du siehst den Mann. Schau genau hin, dann nimmst du sogar die Frau wahr, die ihn anlächelt und ihm an Festtagen ein Stück Fleisch brät.« Der Amerikaner beugt sich über das Geländer.
    Veronika beugt sich auch ein wenig vor. Aber sie vermeidet es, in den Schacht hinunterzuschauen. Sie hört zu und ist für einen wohltuenden Moment weit weg von sich selbst, fünfhundert Jahre mindestens, vor fünfhundert Jahren stand der Turm schon, hat sie gehört.
    »Und die Kreidezahlen? Wie sind die auf die Mauer gekommen?«
    »Jemand hat sie da hingeschrieben.«
    »Konnte er vor der Mauer schweben?«
    »Ich würde sagen, er verwendete den Balken.«
    Veronika schaut hinunter und zieht scharf die Luft ein. Ein Balken führt von hier nach drüben, sein Ende liegt in einer flachen Mauernische. Wer auf dem Balken stünde, wie sie auf dem Stuhl stand, als sie die Nachricht für Mattis schrieb, könnte tatsächlich auf der Wand schreiben.
    »War er angeseilt?«
    »Aber nein«, sagt der Amerikaner.
    »Wer war es?«
    »Der Junge«, sagt der Amerikaner.
    »Welcher Junge?«
    »Ich erzähle dir vielleicht einmal von ihm.«
    Sie steigen wieder zur Tümerstube hoch. Veronika bleibt auf der letzten Stiege stehen. »Mr James?«
    »Hm?«
    »Der Perspektivenwechsel ist irgendwie gar nicht übel.«
     

24
    Am Abend wird Jaschas Tür aufgesperrt. Die ist jetzt am anderen Ende des riesigen Dachraumes, denn Jascha hat sich so weit von ihr entfernt, wie es ihm überhaupt nur möglich war. Er hat sich die Schuhe um den Hals gebunden, barfuß fühlte er sich beim Balkengehen sicherer. Zuerst hat er die Länge der Kirche und dann auch noch ihre Breite zurückgelegt, immer auf den Balken, die den Dachstuhl tragen, und sich um die Pfosten herumgehangelt. Er hat die Schuhe wieder angezogen und mit gestreckten Füßen probiert, ob das gemauerte Gewölbe auch nicht nachgibt wie der Fehlboden im Judenhaus. Es hat gehalten, und Jascha konnte den Balken loslassen und in einen Krater zwischen den Buckelgewölben rutschen, in einen mit genügend Unebenheiten, sodass er auch wieder herauskommen würde. Es war unbequem und kalt, noch kälter als im Judenhaus. Doch er hat die Arme um die angezogenen Knie geschlungen und sich fast ein wenig behaglich gefühlt, denn sein Bauch war warm von Brot und Schmalz.
    Am Nachmittag brach in der Kirche unter ihm ein furchtbarer Lärm aus: Männerstimmen und Hundegebell. Es dauerte unendlich lange, während er nur immer denken konnte: Jetzt hätten sie dich, jetzt hätten sie dich und hoffentlich wissen sie nichts von der Tür ins Dach.
    Doch diese Hoffnung ist vergeblich gewesen. Jascha liegt in seinem Mauertrichter wie in einer Falle und darf sich noch  nicht einmal bewegen. Stimmen dringen verzerrt über den großen Raum hinweg zu ihm, seit die Tür aufgesperrt wurde. Ein Mann redet im Befehlston,

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