Das Wolkenzimmer
Außerdem klingelte ständig das Telefon, aber der Amerikaner ließ es läuten. Nur einmal nahm er ein Gespräch an. Veronika sah ihn knapp lächeln, den Kopf schütteln und ein Ansinnen abwehren. Dann schien er über sie zu reden, denn er blickte sie über die Schulter an, durch das Fenster der Türmerstube, hinter dem sie stand und abwechselnd den Monitor und die Besucher beobachtete, wenn sie nicht grübelnd in der Ecke saß oder mutlos durch die Küche strich. Sie hätte gern etwas für ihn zubereitet, aber Kochen - Kochen ist ein Buch mit sieben Siegeln.
Jetzt liegt das Übliche auf dem Tisch: Brot, Butter, Schinken, Käse, Obst. Der Amerikaner hat es am Morgen beschafft, und wie sie ihn nun schon kennt, wird er sich damit begnügen, bis er Nachschub braucht. Außer Fertigsuppen, wovon sie größere Vorräte in der Küche gefunden hat, scheint er nichts zu kochen.
»Sie haben heute am Telefon über mich geredet, Mr James.«
Er schält kunstvoll einen Apfel. »Stimmt«, sagt er. »Ich habe dich zur Großnichte erklärt. Du verbringst ein paar Ferientage bei mir.«
»Haben Sie eine Großnichte?«
»Ja.«
»Wo?«
»In San Francisco.« Die Apfelschalen ringeln sich über den Tellerrand. »Falls die Lüge auffliegt, wäre es gut für mich, wenn du volljährig wärst.«
»Ich bin volljährig. Wollen Sie meinen Ausweis sehen und den Führerschein?« Ihre Stimme kippt. »Ich bin volljährig, und nicht einmal meine Eltern könnten mir verbieten, mit Mattis nach Amerika zu gehen!«
»Ah ja. Aber offensichtlich begleitest du ihn nicht?«
»Mattis wollte es nicht«, sagt sie tonlos.
»Und du denkst, es ist wegen dieser...«
»Diana.«
Der Amerikaner betrachtet sie aufmerksam.
Veronika senkt den Blick auf den Tisch. »Wenn ich ihm so viel bedeuten würde wie er mir, würde er nicht ohne mich fliegen. Er würde es nicht ertragen, ein ganzes Jahr oder länger ohne mich zu sein.«
Schweigen.
»Kommst du mal mit?«, sagt der Amerikaner und steht auf.
Veronika schiebt sich von der Bank und folgt ihm verwundert bis zum Fuß der Stiege. Dort bleibt sie aber stehen. »Auf den Kranz? Nein, dazu hab ich keine Lust.«
Der Amerikaner ist schon zur Hälfte hinaufgestiegen. Er kommt zurück, sieht sie nachdenklich an und geht dann zu einem Fenster im Vorraum.
»Komm«, sagt er einladend. »Du musst nicht auf den Kranz, du siehst die Stadt auch von hier.« Er rückt zur Seite, damit Veronika Platz hat. »Sag mir, was du siehst.«
Sie schaut hinunter. Dann zuckt sie die Achseln. »Dächer. Hausgiebel. Straßen.Autos. Jemand geht über den Zebrastreifen.«
»Siehst du unter die glatten Dächer?«
»Wie: unter die glatten Dächer?«
»Oder in die Fenster, in die Wohnungen, in die Betten, an die Tische?«
Veronika zieht unwillig die Brauen zusammen.
Er ignoriert ihre Ablehnung. »Manche dieser sanierten und renovierten Häuser sind sehr alt«, sagt er fast leichthin und schaut hinab. »Viele Generationen lebten darin, eine nach der anderen. Jede Generation zu ihrer Zeit in ihrer ganz besonderen Gegenwart.« Er räuspert sich. »Nick, was dir die Stadt freiwillig zeigt, ist nichts, gar nichts.«
»Warum erzählen Sie mir das? Das weiß doch jeder.«
Der Amerikaner nickt vor sich hin. »Ja, man sollte es meinen.«
Die Dächer glänzen im Abendlicht und sind so rot wie auf den Postkarten.
»Ein paar Häuser wechselten vor gut sechzig Jahren plötzlich den Besitzer...«, murmelt der Amerikaner.
Veronika sieht ihn rasch von der Seite an, seine Stimme und sein Ausdruck haben sich verändert. Aber sie wartet umsonst, er sagt nichts mehr, er schließt die Augen. Dann macht er sie wieder auf. »Kommst du mal mit zum Ostfenster hinüber?«
Er überquert den Vorraum, und als sie an seiner Seite steht, zeigt er hinunter.
Tief unter ihnen liegt das gewaltige Kirchendach.
»Heb das mal ab«, sagt der Amerikaner, »das Dach, und sag mir, was du siehst.«
»Wie soll ich wissen, was darunter ist?«, protestiert Veronika. »Vielleicht Bilder, Möbel, Kirchenschätze? Keine Ahnung. Sie könnten mich aber aufklären!«
»Ja, könnte ich.« Er lächelt flüchtig. »Ist doch spannend, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, nicht? Und dann zu erleben, dass alles ganz anders ist, nicht?«
Bevor er sich umdreht und in die Türmerstube geht, drückt er leicht ihren Arm. Wie jemand, der über seine Rede hinaus etwas sagen will.
Veronika legt die Stirn ans Fenster und schließt die Augen.
Später sagt der Amerikaner: »Lass uns noch
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