Das Wolkenzimmer
finden!«
Hinter Jascha wird abgeschlossen. Der Einarmige kann mit seiner einen Hand das Klirren der Schlüssel nicht dämpfen. Aber der Treppenturm hat vierundneunzig Stufen, Jascha hat sie beim Hinaufschleichen gezählt, und wer immer da heraufkommt, macht hoffentlich selbst genug Lärm. Oh, wenn sie doch schneller gewesen wären! Dann wären sie jetzt halb unten und er könnte sich in der großen Kirche verstecken.
Jascha presst das Gesicht gegen die Tür und horcht. Der Einarmige scheint hinunterzugehen, dem Besucher entgegen. Wenn seine Tür jetzt nicht abgeschlossen wäre, könnte Jascha wieder hinauf, über der Türmerstube geht der Turm ja noch weiter, dort könnte er vielleicht ein Versteck finden. Stattdessen ist er eingesperrt - aber wo eigentlich? Es riecht nicht wie in einem Loch oder einer Kammer oder einer Höhle. Es riecht... groß. Jascha dreht sich um. Er reißt die Augen auf.
Der dämmerige Raum ist unüberschaubar. Balken bis in die Ferne, in der eine Sonne sein muss, denn Strahlen kommen von dort, in denen feinster Staub tanzt. Balkenstockwerke übereinander, hoch hinauf, bis in eine dunkle Gegend, wo man nichts Genaues mehr sieht, hundertmal so viele Balken wie auf dem kleinen Speicher des Judenhauses. Jascha vergisst zu atmen. Es ist ein Raum, der einen kleinen Jungen schlucken kann wie eine Laus. Es ist der Raum unter dem Kirchendach, es ist der Raum für das Kirchengebälk. Nicht einmal einer, der das gewaltige Dach von außen gut kennt, würde glauben, dass darunter so ein ungeheuer großer Raum ist. Der Boden besteht aus Balkengevierten. Unter den Balken sind gemauerte Buckel, das kann nur die Kirchendecke sein, die ist also nicht gerade, sondern besteht aus großen Wölbungen.
Jascha atmet tief ein und aus. Wenn die gemauerte Decke nicht bricht, findet er zwischen den Buckeln hundert Krater. Er wird sich einen suchen, der ganz weit weg ist von der Tür, er wird ans andere Ende dieser Balkenkathedrale balancieren, der Sonne entgegen, die dort zu einem Fenster hoch in der Giebelwand hereinkommt.
23
Veronika überprüft jeden Tag, ob ihre Nachricht noch auf der Turmwand steht. Der Amerikaner hat nichts dazu bemerkt, muss es aber gelesen haben, denn er hat ihr einen Vorschlag gemacht.
»Vor der Stadt ist ein Schwimmbad. Du bist ja nun nicht mehr an den Turm gebunden. Ich halte deinen Freund fest, wenn er kommt.«
Sie ist dankbar darauf eingegangen. Wenn sie nun abends zurückkommt, braun gebrannt und sonnenmüde, schaut sie den Amerikaner fragend an. Aber seine Antwort ist das ewig gleiche Kopfschütteln. Sie weiß es bereits beim Hinaufsteigen. Die schillernde Seifenblase, ihr Tagtraum, platzt lautlos. Kein Mattis sitzt beim Nachhausekommen in der Türmerstube, um ihr entgegenzulachen.
Beim Nachhausekommen... Der Turm ist nun wirklich nicht ihr Zuhause. Er nicht, und ein anderes Zuhause hat sie auch nicht mehr. Die Vorstellung, zu ihren Eltern zurückzukehren und ab August wieder in die Schule zu gehen - denn dann sind die Sommerferien vorüber - und mit neuen Leuten, jüngeren, in der Klasse zu sitzen, daheim für die Schule zu arbeiten - diese Vorstellung eines Lebens ohne Mattis ist undenkbar, und es kann sich nur um das Leben einer anderen handeln. Was soll sie im Leben einer anderen? Sie will ihres, dessen Inhalt Mattis ist.
War, vielleicht muss es war heißen. Aber genau wissen wird sie das erst am siebzehnten Juli, dem Tag, an dem Mattis fliegt. Bis dahin ist noch alles möglich, und daran will sie sich klammern, und so lange hat sie eben ein Übergangsheim.
Der Turm ist ein Heim ohne Komfort. Zum Duschen geht der Amerikaner in die öffentliche Toilette im Rathaus, in der auch eine Duschkabine ist, für die er den Schlüssel hat. Seine Wäsche bringt er in eine Wäscherei. Manchmal reibt er auch ein Stück von Hand aus, in der gelben Plastikwanne, in der auch sie ihre Sachen nun gewaschen hat, das ging besser als im Handwaschbecken der Toilette. Alles frisch gewaschen für die Begegnung mit Mattis, über Nacht getrocknet auf einem Seil, das der Amerikaner quer durch den Vorraum spannt, wenn er Wäsche hat.
Abends hilft sie ihm beim Saubermachen des Turms. Sie sammelt Fundstücke und Bonbonpapier ein, auch mal eine abgestellte Getränkedose oder eine Plastiktüte, die jemand in eine Balkengabel geklemmt hat. Grober Schmutz ist zu kehren. Schlimm sehen manchmal die Toiletten aus, und Veronika staunt über die Gleichmütigkeit des Amerikaners, mit der er sich der
Weitere Kostenlose Bücher