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Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irma Krauss
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Frühstück.
    Der Amerikaner schweigt auch. Erst beim Aufstehen sagt er: »Dare, lady. Geh einmal oben um den Turm.«
    Veronika legt das Messer weg. »In Ordnung«, sagt sie. »Jetzt bekommen Sie Ihren Willen. Aber dann stelle ich meine Frage.«
    »Ja, mach das«, sagt er und setzt sich wieder.
    Krümel fliegen, als Veronika die Beine von der Bank schwingt. Ohne sich einen einzigen Gedanken zu erlauben, läuft sie in den Vorraum und zur Stiege, sie rennt hinauf, bremst ab, tritt durch die Pforte auf den Kranz und schleicht mit gesenkten Augen die Wand entlang um den Turm. Nur nicht durch die Balustrade schauen... Als sie die Pforte von der anderen Seite erreicht hat, schlüpft sie zwischen die dicken Mauern, dreht sich um und sieht endlich hinaus in den Himmel. Sie sucht mit beiden Händen die kühlen Quader. Sie hat Herzklopfen, ihr ist schwindlig, beinahe übel, aber sie hat es getan, erfolgreich hat sie das Nachdenken über eine unangenehme Frage vermieden und dafür bezahlt. Sie atmet tief durch, dann poltert sie die Stiege hinab und läuft zurück in die Türmerstube. »Wo haben Sie das Figurenlegen geübt, waren Sie im Gefängnis?«, stößt sie hervor.
    »Was meinst du mit Gefängnis?«
    »Das wissen Sie genau! A prison! Waren Sie verurteilt?«
    Der Amerikaner hat die Hände flach auf dem Tisch liegen. »Es trifft gewissermaßen zu«, beginnt er. Dann schüttelt er ratlos den Kopf.
    Veronika betrachtet ihn. Sie hat es geschafft, ihn in Verlegenheit zu bringen!
    »Ich hätte noch ein paar mehr Fragen...«
    »Hättest du. Schreibe sie doch mal alle zusammen.«
    »Echt?«, sagt sie überrascht. »Bekomme ich dann Antworten?«
    »Wir werden sehen. Willst du den Turm aufschließen oder lieber abräumen?«
    »Abräumen. Und dann nehme ich ein Zettelchen...« Sie grinst.
     

26
    Als Jascha aufwacht, ist es stockfinstere Nacht. Er weiß weder, wo er ist, noch was ihn geweckt hat. Die Sirenen sind es nicht, er hört keine. Bei Alarm hätte Tante Kühn auch alle Kinder hinuntergescheucht in den Laden, der längst kein Laden mehr ist. Die zwei Familien, die jetzt darin wohnen, murren bei Alarm, weil sie wegen Tante Kühns Ängstlichkeit noch mehr zusammenrücken müssen. Es ist doch bisher nur eine Bombe auf die Stadt gefallen und das war letzten Herbst. Onkel Kühn, sagen sie, der ist vernünftig. Der geht nämlich bei Alarm nicht hinunter, er wurde zwangsverpflichtet. So heißt das, wenn man auf dem Bau arbeitet, draußen vor der Stadt, wo ein großer Rüstungsbetrieb entsteht, und Onkel Kühn braucht seinen Schlaf, sonst kann er nicht arbeiten und wird umgesiedelt.
    Aber es ist ja gar kein Alarm. Sondern im Gegenteil tiefste Stille. Jascha weiß plötzlich, dass ihn die Stille geweckt hat, zusammen mit der Kälte. Kein Sigi plärrt und weder Adolf noch Hanni oder Else bewegen sich oder seufzen im Schlaf, sie sind nämlich nicht da, sie werden gerade umgesiedelt. Niemand ist da, es riecht nicht nach Menschen, sondern nach einem großen, kalten Raum, und Jascha weiß jetzt, wo er ist.
    Er muss lange geschlafen haben, und gut nur, dass er alle seine wollenen Sachen anhat, die noch von Hermann sind, sonst wäre er vielleicht erfroren. Hoffentlich kommt bald  der Morgen und mit ihm der Einarmige, der ihn herauslässt. Denn Jascha hat Hunger, schrecklichen Hunger.
    Die Turmuhr schlägt zwölfmal ihre Viertelstunden, bevor es auch nur ein wenig hell wird, das ist eine lange Zeit. Jascha zählt die Glockenschläge und dazwischen manches andere, Namen und Adressen, die Buchstaben der Stadt, aus der Hermanns letzter Brief kam, Menschen, die er gekannt hat und die aus seinem Leben verschwunden sind, zuallererst Vater und Mutter und bald darauf Großmutter.
    Großmutter ist in ihrem Bett gestorben, Hermann und er waren dabei. An gebrochenem Herzen ist sie gestorben, hat Jascha die Klageweiber flüstern hören - die übrigens leise klagen mussten, um die arischen Nachbarn nicht auf sich aufmerksam zu machen. Jascha hat sich ein auseinandergesprungenes Herz in Großmutters Brust vorgestellt, aber Hermann hat gesagt, das ist nur eine Redensart, der Schmerz hat Großmutter umgebracht. Dabei war sie am Anfang so stark, hat Hermann gesagt, sie hatte die Geistesgegenwart, Jascha, uns beide in ihrem Zimmer festzuhalten, als die Gestapo unsere Eltern abführte. Wenig später kamen die Männer zurück, um das Haus zu durchsuchen und alles mitzunehmen, was ihnen wichtig schien, bevor sie die Türen versiegelten, aber da hatte uns

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