Das Wolkenzimmer
ein Weilchen am Tisch sitzen und zuschauen, wie es draußen dunkel wird. Die Dächer sind schon stumpf, siehst du? Während die Straßenlampen immer heller werden. Mach sie mal zur Abwechslung alle aus...«
Veronika hat das Kinn auf ihren gekreuzten Armen liegen. Sie kann die Stadt gar nicht sehen. Höchstens den Horizont. Und den auch nur, wenn sie sich aufrafft und näher ans Fenster rückt.
»Ich weiß, was los ist«, murmelt sie, »und was Sie denken. Vielen Dank für den Versuch, und vielen Dank auch, dass Sie’s mir nur durch die Blume hinreiben.«
»Was denn?«
»Meine Nabelschau.«
»Ich biete dir die Vogelschau an. Hinreiben will ich dir nichts.«
»Ja, okay.«
»Hast du dich schon mal gefragt, warum ich dich hier behalte und nicht wegschicke?«
Sie nickt müde, ihr Kinn reibt auf dem Handgelenk. »Aber ich bin nicht draufgekommen.«
»Wegen des Perspektivenwechsels. Der Turm ist ein guter Ort dafür.«
»Das ist mir zu hoch«, murmelt sie. Dann horcht sie ihrem Satz hinterher und schnaubt irritiert.
22
Schau mich an«, sagt der Einarmige. »Ich habe den Arm in Frankreich verloren. Jetzt ist seit drei Jahren wieder Krieg und zwei Söhne sind mir in Russland geblieben. Meine Frau redet seitdem nicht mehr. Glaubst du, nur euch geht’s schlecht?«
Sie sind schon an den Glocken vorüber, und es geht hinunter, hinunter, mit jeder Stufe ein Stückchen mehr der Tür entgegen, durch die Jascha hinaussoll. An der Fensternische, die aber keine ist, hat Jascha endlich angehalten und flehend hineingezeigt zu den Balken und Brettern, hinter die er schon einmal gekrochen war.
»Schau mich an«, sagt der Einarmige. »Ich kann nicht wegen dir mein Leben aufs Spiel setzen, es ist alles, was mir geblieben ist, auch wenn es nicht mehr viel wert ist. Hier finden sie dich schneller, als du denkst. Du musst hinaus. Wenn niemand auf dem Platz ist, lass ich dich laufen, dann kannst du dich irgendwo verstecken. Aber wenn man uns sieht, muss ich dich abliefern. So ist das, Bursche.« Seine Kopfbewegung zeigt Richtung Stiege.
Jascha gehorcht dem fremden Willen. Er hat bereits oben die Schuhe anziehen müssen und schaut jetzt seinen Füßen zu, wie sie Stufe um Stufe hinuntergehen, in einem eigensinnig langsamen Tempo. Soll er von Hermann reden, der ihn suchen wird und der ihn nur hier in der Stadt finden kann? Soll er sagen, dass von den Umgesiedelten keine Post mehr gekommen ist und dass niemand weiß, wohin die gebracht wurden? Und wenn er, Jascha, jetzt umgesiedelt wird, kann Hermann ihn bis in alle Ewigkeit suchen, soll er das sagen?
»Der Zug ist schon aus dem Bahnhof gefahren. Ich hab’s von oben gesehen«, sagt er fürs Erste.
»Das ist deine eigene Schuld.«
»Ich glaube nicht, dass keiner auf dem Platz ist«, sagt Jascha danach.
»Wie? Was?«
»Ich glaube nicht, dass keiner auf dem Platz ist.«
Der Einarmige schweigt. Unter seinen schweren Schritten rumpeln die Stufen und schwingt die Stiege. Sein Schlüsselbund klirrt. Nichts deutet darauf hin, dass er Jascha verstanden hat.
Jascha sieht im Vorübergehen auch vergeblich zum Uhrenhaus hinüber. Doch dann, als es vom Hauptturm in den steinernen Treppenturm gehen soll, bleibt er einfach stehen. Da hinein will er nicht, denn da geht es wirklich nur noch wie in einer Röhre hinab.
Der Einarmige steht hinter ihm. Er stützt die Hand gegen die Kante der Nische, in der die versperrte Tür ist, und flucht leise.
»Kruzitürken«, sagt er. »Du bringst mich um Kopf und Kragen. Mistbengel! Ich schließe dir die Tür zum Chor auf. Nein, nicht die hier, wir müssen noch den halben Treppenturm runter. Du kommst dann bei der Orgel raus und versteckst dich irgendwo in der Kirche. Lass dich bloß nicht erwischen, bevor Leute in die Kirche gehen, bevor aufgeschlossen wird, hörst du? Sonst wissen sie, dass du vom Turm gekommen bist!«
Jascha nickt eifrig; die Kirche ist riesengroß, darin wird er sich bestimmt verstecken können.
»Nimm den Besen da, du bist dem Löschsand zu nahe gekommen!«
Jascha verwischt seine Spur.
Aber jetzt hört man unten etwas. Einen Knall. Die Außentür! Und dann hallt der Treppenturm dumpf wider von wuchtigen Schritten.
Es ist zu spät. Jascha reißt den Kopf herum, sein Blick fährt nach oben.
Der Einarmige blockiert den Weg. »Hier rein!«, zischt er und zeigt in die Nische. Der Schlüsselbund klirrt ohrenbetäubend, als er aufschließt und Jascha mit dem Knie hineinstößt. »Versteck dich! Gnade uns Gott, wenn sie dich
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