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Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irma Krauss
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unglaublich schnell, stoßweises Ausatmen kommt hinzu - und dann begreift sie, dass er das nicht sein kann. Sie geht zur Stiege und öffnet die Glöckchentür.
    Ein Mädchen rennt herauf, eine junge Frau wie sie, sie hat ein flüchtiges Lächeln für Veronika, stößt die Luft aus, passiert die Tür und fliegt die Stiege zum Kranz hinauf.
    Veronika schaut ihr erschreckt nach. »Hallo...!«
    Jetzt kommt auch der Amerikaner, aber gemächlich.
    Veronika hat die Glöckchentür noch in der Hand. »Was hat die vor? Soll ich...?«
    »Aber nein.« Er lächelt herzlich. »Sie ist eine Turmläuferin, sie trainiert.« Und dann muss er schon zur Seite treten, denn das Mädchen kommt zurück.
    »Einsachtundfünfzig«, keucht sie und verschwindet nach unten.
    »Gut!«, ruft der Amerikaner.
    Veronika betrachtet ihn gedankenvoll. »Die mögen Sie«, stellt sie fest. Sie wundert sich über die kleine Schärfe in ihrem Ton. Sie spürt den Wunsch zu verletzen und fühlt sich zu ihrer Verwirrung doch eher selbst verletzt.
    »Ich würde sie dir vorstellen, aber sie bleibt nie stehen«, sagt er. »Außerdem, jetzt wo ich daran denke: Ich weiß nicht einmal ihren Namen.«
    Veronika dreht auf dem Absatz um und geht mit ihrem Schreibblock zum Fenster zurück. Verdrossen überliest sie ihre Fragen. Sie hat plötzlich gar keine Lust mehr, sie zu stellen. Wo waren Sie an Ihrem Geburtstag? Warum wollten Sie an dem Tag allein sein? Warum wollen Sie immer allein sein? Warum leben Sie auf dem Turm? Warum haben Sie Amerika verlassen? Haben Sie Familie dort oder sind die Briefe von Freunden? Warum sprechen Sie besser Deutsch als mein Deutschlehrer? Waren Sie im Gefängnis?
    Soll er seine Antworten doch der Turmläuferin geben! Da hat sie sich endlich mit großer Mühe eine Handbreit Land erkämpft bei einem Menschen, der einen chronischen Akzent hat wie andere eine chronische Heiserkeit, der aber sonst nichts von sich preisgibt, der sich mit einer Aura von  Don’t Ask, Don’t Touch umgibt und permanent in Rätseln spricht. Da hat sie geglaubt, dass man sehr lange in seiner Nähe leben muss, um gnädig akzeptiert zu werden - und dann gibt es eine andere, die mag er einfach so!
     

28
    Es ist noch hell, als plötzlich die Sirenen heulen: Fliegeralarm. Wer einen Luftschutzkeller oder überhaupt einen Keller hat, geht jetzt hinunter. Haustüren dürfen nicht abgeschlossen werden, damit auch Leute von der Straße schnell noch einen Keller erreichen können. Der Einarmige, falls sie ihn nicht verhaftet haben, geht in keinen Keller, er geht überhaupt nicht vom Turm herunter, im Gegenteil, er steht bei jedem Alarm oben auf dem steinernen Balkon, der rund um den Turm läuft. An der Balustrade steht er und wartet auf die Bomber.
    Wer vom Speicher des Judenhauses hinaufgeschaut hat, weiß das, Jascha also, er weiß es, denn auch er ist nicht mehr hinuntergegangen. Im Laden saßen zu viele Menschen und stritten sich manchmal bis zur Entwarnung. Da schaute man besser durch ein Loch im Dach in den Himmel, wo die Bomber in Formation über die Stadt hinwegdröhnten.
    Jetzt kann Jascha nicht zu einem Loch im Dach hinaussehen, denn er ist nicht im Judenhaus, keiner ist mehr dort. Vier Familien lebten darin, zwei oben und zwei unten. Jede Familie hatte vorher ihr eigenes Haus und darüber wurde oft geredet.
    Falls der Einarmige an der Balustrade steht, sieht er die Bomber kommen. Oder er kann nach unten schauen, auf eine vollkommen dunkle Stadt und darin auf ein Haus, in dem es von Menschen wimmelte und das nun leer steht wie  die zwei anderen Judenhäuser, die auch von Menschen wimmelten.
    In das Heulen der Sirenen mischen sich Schläge - wird geschossen, fallen jetzt Bomben? Die Schläge kommen von ganz oben, von der Wand, hinter der der Turm ist. Mit dem dunklen Brummen der Bomber rieseln Mauerbröckchen herab. Ist das der Angriff, geht es so los? Jascha läuft weg und ein Stück über einen Balken, er klammert sich an einen Stützpfosten und beobachtet die Wand mit aufgerissenen Augen. Wird sie einstürzen, soll er sich retten, wackelt der Turm schon?
    Da kommt ein Stein herab, ein Mauerstein, er kracht auf den festen Boden, zerbricht und spritzt in Brocken davon und hinein ins Buckelgewölbe.
    Oben ist ein Scharren und Schlagen in der Wand - und hört plötzlich auf. Nichts mehr. Jascha schleicht zur Wand. Da sieht er eine Bewegung an ihrem höchsten Punkt, knapp unter dem Firstbalken, einen Gegenstand, einen Arm oder einen Fuß - nein, einen Kopf!
    Die

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