Das Wolkenzimmer
Großmutter schon zu Tante Sophie gebracht, und die Gestapo hat sich nicht die Mühe gemacht, nach uns zu forschen, denn wir waren ja nur Kinder.
Jascha schlingt die Arme um sich selbst, etwas muss er festhalten, wenn er an Hermann denkt. Hermann, der mit Tante Sophie und Onkel Simon nach Großmutters Tod ausgewandert ist und es mit allem Reden leider nicht geschafft hat, dass sie ihn, Jascha, auch mitnahmen. Doch hat er ihn zu Tante Kühn gebracht, und die hat ihn aufgenommen, weil Hermann vorher zu Grete ging und weil Grete versprochen hat, für Jascha Essen zu bringen, denn sie hat ihn sehr lieb gehabt, als sie noch sein Kindermädchen war.
Und Hermann wollte schnell wiederkommen, um ihn zu holen. Selbst wenn es länger dauern sollte, Jascha, hat er gesagt, darfst du nie daran zweifeln. Du musst nur gut essen und dich nicht abholen lassen. Wir sind das unseren Eltern schuldig. Nur wir können ihr Andenken lebendig halten, niemand sonst wird es tun, und das ist auch der Grund, warum ich jetzt mit den Verwandten mitgehe, Jascha, denn ich bin der Erstgeborene von Max und Fanny Rosen, ich war schon zwölf, als man sie hinrichtete. Großmutter hat mir gesagt, warum, Jascha, denn Vater hatte sie kurz vorher eingeweiht, und ich kann also bezeugen, was er getan hat.
Wörter wie hinrichtete und eingeweiht und bezeugen hat Hermann Jascha erklären müssen, damit er auch alles gut verstand und es notfalls selbst bezeugen konnte.
Es sind schlimme Wörter, eines davon ist das schlimmste Wort überhaupt, das Jascha kennt.
Der Morgen kommt, danach der Vormittag und schließlich der Mittag. Die Turmuhr schlägt in immer gleichen Abständen. Sie geht genau, und Jascha weiß ja nun, wie sie aufgezogen wird. Darüber hatte er sich früher immer Gedanken gemacht. Aber jetzt hat er das Uhrenhaus gesehen und die Gewichte an ihren langen Seilen, die das Werk am Laufen halten.
Wenn man viele Stunden auf dem Speicher des Judenhauses verbracht hat, kennt man die Geräusche der Stadt, die häufigen und die seltenen. Aber keines kennt man besser als das Schlagen der Turmuhr. Wenn Jascha noch Vaters Fernglas gehabt hätte! Er hätte die Stundenglocke und die Viertelstundenglocke, die in der Spitze des Turms hängen, genauer betrachten können. Sie haben über dem Turmdach ihren eigenen kleinen Säulentempel mit einer eigenen kleinen Haube, und wenn das Uhrwerk es will, schlagen zwei Klopfer von außen an die eine und an die andere Glocke, sodass man die Schläge weithin hört.
Eine Sache kommt Jascha seltsam vor: dass die Turmuhr, die er so genau kennt, ihn überhaupt nicht kennt. Sie schlägt da oben in ihrer luftigen Höhe, ob es ihn gibt oder nicht, ob er eingesperrt ist oder umgesiedelt wird, ob er satt ist oder vor Hunger weint, ob er jemanden hat oder allein ist, ob er warm ist oder friert.
Alle Menschen in der Stadt hören die Turmuhr, auch der Einarmige, er ist ihr am nächsten. Denkt er denn überhaupt nicht daran, dass da noch jemand ist? Ein Junge, den er ins Dach gesperrt hat?
Jascha läuft über die Balken, um warm zu werden. Er hat es schon ein paarmal riskiert, bis zur Tür zu gehen und sie auszuprobieren. Wenn er vom Turm her etwas hört, versteckt er sich in einem Gewölbetrichter, er weiß ja nicht, ob es der Einarmige ist. Doch niemand kommt zur Tür. Es ist, als hätte man ihn wirklich vergessen.
Ein Gedanke taucht auf und ängstigt ihn mehr als alles andere: Was ist, wenn die Nazis den Einarmigen weggeschickt oder verhaftet haben? Dann weiß niemand, dass Jascha hier eingesperrt ist, oder aber die falschen Leute wissen es, und dann holen sie ihn. So oder so ist er übel dran. Und wie kann er hoffen, dass Hermann ihn hier je findet?
Es wird Nacht, eine endlose, kalte Nacht, die zweite schon. Dann kommt der Morgen. Es wird Vormittag und Mittag. Jetzt kann Jascha nur noch dasitzen und weinen, er hat keine Kraft mehr zum Balkengehen. Es wird Nachmittag und Abend.
27
Veronika sitzt mit einem Schreibblock in der Nische des Ostfensters und kaut auf ihrem Stift. Ein Blatt hat sie bereits verworfen. Es enthielt neben den schweren auch ein paar allzu einfache Fragen; logisch, dass sich der Amerikaner darauf stürzen würde, und damit wäre sie angeschmiert.
Sie fängt neu an. Acht Fragen. Und keine darunter, die ihn nicht ins Schwitzen bringen wird, geheimnisvoll, wie er sich gibt.
Nach einer Weile hört sie den Amerikaner von unten heraufstapfen. Seltsamerweise verändern sich seine Schritte, nähern sich
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