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Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irma Krauss
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Stimme des Einarmigen zischt: »Ist jemand unten?«
    »Ja, ja, ich!«, ruft Jascha aufgeregt.
    »Schsch!« Der Kopf bewegt sich hin und her. Dann verschwindet er, kommt aber bald wieder.
    »Ich kann dich nicht rauslassen«, raunt der Einarmige, »sie haben mir den Schlüssel abgenommen. Kruzitürken, aber ich kann doch auch nicht zuschauen, wie du verhungerst. Ich lass dir einen Sack hinunter, da sind Brot und eine Flasche Wasser drin. Bei Entwarnung musst du fertig sein und die Flasche wieder in den Sack stecken, hast du verstanden?«
    »Ja!«, ruft Jascha.
    »Und iss langsam. Wenn du kotzen musst, gibt es Spuren! Die Steinsplitter räumst du fort, klar? Keine Spuren, klar? Zum Scheißen gehst du irgendwohin, wo man es nicht findet!«
    Es ist schwer, langsam zu essen und zu trinken, richtig schwer. Zwischen die dicken Brotscheiben hat der Einarmige Schmalz gestrichen. Jascha hört bald auf und trinkt nur die Flasche leer, das Brot legt er sich für später zur Seite. Er hat Zeit gehabt nachzudenken, denn es hat gedauert, bis der Einarmige den Sack abgelassen hat. Wie er das macht, ist Jascha ein Rätsel, er muss die Füße zu Hilfe nehmen. Wenn er zwei Arme hätte, könnte er vielleicht einen Jungen die Wand hochziehen, aber mit einem Arm - wie sollte das gehen. Jascha bleibt nur die Hoffnung, dass wieder Essen kommt, und er muss alles richtig machen, damit der Einarmige nicht die Geduld mit ihm verliert.
    Die Sirenen geben Entwarnung. Zu dem Zeitpunkt ist der Sack mit der Flasche bereits oben. Der Einarmige verliert kein Wort mehr, er verschließt das Loch in der Wand mit Ziegelsteinen, das kann Jascha hören.
    Das Tageslicht schwindet jetzt schnell, das wenige, das überhaupt in diese dämmerige Halle dringt. Jascha beeilt sich, mithilfe seines Mantels Steinsplitter und Mörtelstaub von der Plattform hinunter ins Gewölbe zu fegen. Dann zieht er den Mantel wieder an und schiebt das Brot in die Tasche. In der anderen Tasche steckt der zerdrückte Judenstern, den er mit großer Geduld abgetrennt hat, wie man ein Pflaster entfernt, wenn die Wunde verheilt ist. Mit der Vorfreude auf das Brot läuft Jascha über die Balken zum anderen Ende des Dachraumes.
     

29
    Veronika hat beinahe den ganzen Tag in ihrer Fensternische gesessen. Hat umhergesehen wie eine beliebige Besucherin und halbherzig in ihrem Buch gelesen und hauptsächlich beobachtet, wer heraufkam und zum Kranz hinaufstieg. Es gibt immer Leute, die nicht bezahlen wollen. Für das kleine Stück noch, was für eine Zumutung, wo sie doch schon den ganzen gewaltigen Turm heraufgestapft sind und sich die schöne Aussicht mit ihrem Schweiß verdient haben! Solche gab es heute auch. Andere fragten dem Amerikaner Löcher in den Bauch. Aber Veronika war zu weit weg, um viel von seinen Antworten verstehen zu können.
    Das Ostfenster, unter dem sie ihr Lager aufschlägt, wenn alle Besucher weg sind, ist ihr am vertrautesten. Es gehört jetzt mehr ihr als dem Amerikaner, und sicher wird sie Mattis später nie erklären können, wie sie hier gelebt und gefühlt hat. Wie sollte einer, der schnell mal heraufkommt und gleich wieder geht, das verstehen können? Selbst wenn es zur Zeit des Glockenläutens wäre und er die Erschütterung des Turms wahrnähme - es würde ihm nichts bedeuten.
    Der Glockenstuhl, hat der Amerikaner erwähnt, war früher aus Holz und hat die Schwingungen sanft übertragen. Jetzt ist er aus Eisen und schüttelt den Turm, sodass man das volle Geläut nur noch zu besonderen Anlässen erlaubt. Es hat schon etwas, mitten im Schwingen und Klingen der Glocken zu sein und an Mattis zu denken, dem man das Gefühl gern mitteilen würde.
    Mattis ist nicht aufgetaucht. Und mit jedem Tag, der vergeht, beraubt er sich mehr der Chance, irgendetwas zu verstehen. Sie hat sein Foto neben den Monitor gepinnt, für alle Fälle. Die Botschaft auf der Turmwand, das Foto für den Amerikaner - damit sollte nichts schiefgehen, selbst wenn sie einmal nicht aufpasst.
     Abends gehen sie zusammen hinunter. Sie haben Handtücher und Shampoo dabei und wollen duschen, zuerst der Amerikaner, dann sie, und Veronika soll wie immer darauf achten, dass man sie nicht unbedingt in Verbindung mit dem Türmer und dem Turm bringt. Das könne nämlich neugierige Fragen zur Folge haben und bei ihrem Englisch wäre es gleich aus mit dem Alibi als Großnichte.
    »Dein Glück ist«, sagt der Amerikaner, »dass ich die Leute nicht ermutige, mit mir zu reden.«
    »Seit Ihrem Geburtstag haben Sie

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