Das Wolkenzimmer
Bäckertüte in seiner Hand knistert bei jedem Schritt. Auch etwas, das Veronika, die sich dabei ertappt, dass sie Eindrücke sammelt, nie wieder vergessen wird, sie weiß es jetzt schon: die Art, wie er Treppen geht, wie der Schlüsselbund klirrt, wie der Mann sich nach ihr umsieht.
»Ich verstehe, dass Sie wütend auf mich waren«, sagt sie. »Ich habe kein Recht, hier zu sein.«
Er scheint darüber nachzudenken, denn er antwortet erst nach einer kleinen Weile.
»Genau das wäre der letzte Grund für mich, auf dich wütend zu sein.«
»Sie waren aber wütend.«
»Mehr, ich war zornig.« Und schon ist etwas davon in seiner Stimme.
»Weil ich aufdringlich war.«
»Nicht deswegen.«
»Nicht? Dann kann ich es mir denken. Aber es hätte Ihnen doch egal sein können, ob ich springe«, sagt sie lauernd.
Der Amerikaner hält inne. Er steht einen Moment reglos da und fährt dann unerwartet herum. Der helle Zorn ist auf seinem Gesicht. »Jetzt mach einen Punkt. Kokettiere nicht auch noch damit«, faucht er, und das hat er noch nie getan. »Solange es Menschen gibt, die bis zum Letzten um ihr Leben kämpfen und es vielleicht nur dank eines Wunders behalten, ist es unbegreiflich undankbar, wenn andere ihres wegwerfen, nur weil irgendetwas nicht nach ihrem Kopf geht.«
»Mein Leben gehört mir«, begehrt Veronika auf. »Ich kann damit machen, was ich will.«
Der Amerikaner mustert sie. »Das ist in Ordnung«, sagt er, und seine Ruhe ist so unheimlich wie sein plötzlicher Ausbruch. »Hol deine Sachen von oben. Und dann mach mit deinem Leben, was du willst.«
Veronika starrt ihn an. Unter seinem eisigen Blick tastet sie unwillkürlich nach dem Geländer, die Treppe scheint plötzlich zurückzuweichen. Der Schreck jagt ihr das Blut zum Herzen. Sie sucht nach einem versöhnlichen Wort, aber ihr fällt keines ein. Der Amerikaner kehrt ihr auch schon den Rücken zu. Sie folgt ihm betäubt. In der Kirche spielt jemand die Orgel und selbst die klingt kalt. Veronika möchte rufen: Es tut mir leid. Denn es tut ihr wirklich leid. Warum muss er so überreagieren? Es bräuchte sie nicht zu kratzen, dass sie rausfliegt, sie kann auch unten auf Mattis warten. Aber in all den Tagen und Nächten im Turm und in der Nähe zu diesem jetzt wieder sehr fremden Mann ist irgendetwas … passiert.
Sie ringt sich mühsam einen Satz ab. »Könnte ich noch eine Chance bekommen?«
Er geht weiter, als hätte er nicht gehört.
»Es tut mir leid«, fügt sie beklommen hinzu. Sie muss auf einmal die Tränen zurückdrängen.
Wo der Treppenturm in den Hauptturm führt, bleibt der Amerikaner stehen. »Hast du Chance gesagt?«, fragt er kühl.
Sie nickt stumm.
»Dann komm.« Er nestelt am Schlüsselbund und schließt die Tür in der Nische auf, von der Veronika einmal geglaubt hat, sie würde sich allenfalls in den freien Raum hinaus öffnen. Inzwischen hat sie sich ausgerechnet, dass die Tür vermutlich in die Kirche führt.
»Geh«, sagt der Amerikaner und tritt einen Schritt zurück. »Du hast mein Wort, dass ich dich zu gegebener Zeit abhole.« Damit macht er hinter ihr die Tür zu und schließt ab. Dann geht er weg.
Veronika steht wie gelähmt da, während sich seine Schritte verlieren.
34
Jascha trägt einen Kopfverband und darüber eine Mütze. Die Mütze gehört dem Einarmigen.
Der hat ihn auf dem Sandhaufen verbunden und dabei gemurmelt: »So kann ich dich nicht rausschicken, du kommst keinen Kilometer weit, du kommst nicht mal bis zur nächsten Ecke.«
Als das geklärt war, hat er Jascha nach oben geschleppt. Es ging mühevoll und langsam, denn Jascha war nun auf einmal schwach. In der Türmerstube hat ihn der Einarmige aufs Bett gelegt, und weil er sich so furchtbar geplagt hatte und alles doch gut gegangen war, konnte er kaum anders als zufrieden sein.
Er hat nämlich nicht geschimpft und nicht geflucht, er hat nur einfach dagesessen und den Arm auf dem Tisch liegen gehabt. Der Himmel vor den Fenstern ist allmählich dunkel geworden. Alle halbe Stunde ist der Einarmige zum Kranz hinaufgestiegen und hat seinen Wächterruf hinabgeschrien und von der Polizei ist die Antwort heraufgekommen.
Einmal ist Jascha nachts aufgewacht. Er lag weich und warm und beim Umdrehen stieß er an einen anderen Körper. Er hat geseufzt und sich ein wenig zusammengerollt, das Gesicht an der fremden Schulter.
Da hörte er den Einarmigen murmeln: »Du kannst nicht hierbleiben, das geht wirklich nicht, es kostet uns beide den Kopf.«
Und jetzt
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