Das Wolkenzimmer
geschlossenen Lidern ist die Finsternis ein bisschen weniger unheimlich. Nur einschlafen darf er nicht. Deswegen schreibt er Hermann im Kopf einen langen Brief.
35
Veronika dreht sich um. Das ist es also - das Kirchendach! Bis auf die Balken ist es leer. Keine Möbel, keine Bilder, keine Statuen oder sonstigen Kirchenschätze, die man vielleicht auf einen Dachboden verbannen könnte. Wenig Licht dringt in diese dämmerige, Ehrfurcht gebietende Halle - Ehrfurcht gebietend, denkt Veronika tatsächlich und schüttelt den Kopf über sich, Ehrfurcht gebietend, denkt sie noch einmal und schaut in die Balkenreihen hinein wie in einen luftigen, aber großen Wald, in dem es sehr still ist.
Und dann die gemauerten Gewölbe unter den Balken - eine Kirchendecke einmal von oben zu sehen! Damit man den Raum begehen kann, führt von der Plattform hinter der Tür ein Steg aus Leichtmetall über die Konstruktion und vermutlich bis zum anderen Ende der Halle. Veronika lässt ihre Plastiktüte zurück und betritt den Steg. Unter ihr wölben sich die Backsteinhügel der Decke, und sollten in den Höhlungen auf der Unterseite geniale barocke Gemälde sein, nach denen man in der Kirche die Augen verdreht, so kann man sich das von hier aus kaum vorstellen.
Ihr kommt zum ersten Mal der Gedanke, dass sie die Kirche längst hätte anschauen können. Vielleicht wird sie es mit Mattis zusammen tun, er interessiert sich für Kulturdenkmäler aller Art, seit ihn Diana dazu gekriegt hat, sie herumzufahren. Diana hat in gigantischen Bilddateien Kirchen, Klöster, Schlösser und historische Häuserzeilen gesammelt.
Auf jedem zweiten Bild ist auch Mattis, mal unter einem Torbogen, ein anderes Mal in einem Fenster, von vorn, von hinten, von der Seite, feixend, gelangweilt, amüsiert, eine Dreingabe zur Kultur der alten Welt, und wenn er in der neuen Welt ankommen wird, in fünf Tagen, kennt ihn schon Dianas ganze Familie und ihr gesamter Freundeskreis.
Veronika lehnt an einem Stützbalken und ringt nach Luft. So plötzlich und so schlimm war der Schmerz in ihrer Brust lange nicht mehr, und so anhaltend - in fünf Tagen ist Mattis bereits weg, fliegt über den Atlantik, alle Gedanken nach vorn gerichtet, und falls er und Diana noch nichts miteinander hatten, wird es jetzt jedenfalls nicht mehr lange dauern. Diana wird ihn Matt nennen und so tun, als gehöre er ihr, und in Kürze wird er Englisch sprechen, als wäre es seine Muttersprache.
Veronika rutscht am Stützbalken herunter und sitzt auf dem Steg. Jetzt wo sie daran denkt: Namen haben ihre besondere Bedeutung. Hat Mattis sie nicht immer Vroni genannt? Ist Nick nicht erst entstanden, als Diana am Wort Vroni scheiterte, ist Mattis’ Kosename für sie nicht in Wirklichkeit Dianas Erfindung gewesen, die er einfach übernahm?
Veronikas Beine hängen kraftlos über der Gewölbedecke. Eine aufgestützte Hand verhindert, dass sie sich fallen lässt, hinunterrutscht und dann in einer Fuge zwischen zwei Mauerbuckeln liegt, wo sie verrotten kann, wenn der Amerikaner vergisst, dass er sie hier eingesperrt hat. Was vielleicht das Beste wäre.
36
So schnell heilt die Wunde nicht. Jascha muss fünf Tage im Kamin verbringen und darf immer erst am Abend heraus. In der vierten Nacht ist Alarm.
Der Einarmige geht nicht auf den Kranz wie sonst.
»Vom Fenster aus sieht man auch hinunter«, sagt er.
Jascha steht neben ihm. Wie anders es hier oben ist. Wie nah sie dem Himmel sind. Und wie klein das Dach vom Judenhaus ist. Er kann sich fast nicht mehr vorstellen, dass seine Blicke einmal den umgekehrten Weg gegangen sind. So viele Jahre und jetzt ist alles anders.
Vom First des größten Hauses am Marktplatz heult die Sirene. Woanders auch, aber die hier heult am lautesten; Hanni und Else haben sich immer die Ohren zugehalten und die Sirene mehr gefürchtet als die Bomber.
Der Einarmige brummt: »Wenn es uns erwischt, dann hat es so sein sollen. Das putzt uns weg wie nichts.«
»Wie das Hotel«, sagt Jascha.
»Ja. Aber die hatten ein Oberlicht an. Warum sie das nicht gleich verdunkelt haben, als ich Meldung machte, weiß keiner. Das war ein Volltreffer. Woanders hat’s auch eingeschlagen, aber das war ein Volltreffer. Fünf Leute mussten dran glauben.«
Die Ruine ist von oben gesehen eine hässliche Wunde in der sonst kaum beschädigten Stadt. Unten hatte man vor lauter Trümmern keinen Überblick, Jascha hat von da an nur halbe Zimmer gesehen und Decken, die in der Luft hingen. Er ist ja
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