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Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irma Krauss
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der Krieg in Afghanistan, der Größenwahn der Nazis, die Invasion der Alliierten in der Normandie, der Vietnamkrieg...«
    »Ich habe schon verstanden. Aber Sie springen ganz schön in der Zeit herum.«
    »Oh, du übersiehst den roten Faden, Nick. - President Bush, der eine Schwäche für große Worte hat, war im Mai in Frankreich, er besuchte unter anderem eine kleine französische Stadt namens Ste Mère Iglese. - Die Invasion der Alliierten, sagt dir das etwas?«
    »Juni 1944, glaube ich? Hatten wir in Geschichte.«
    »Ja. Ste Mère Iglese war die erste französische Stadt, die von den Alliierten von der Naziherrschaft befreit wurde. President Bush sprach auf dem Kirchplatz zu Ehren der Gefallenen der Invasion, die für die Errettung Europas mit ihrem Leben bezahlten. Er sprach von der Verteidigung der Freiheit und der gerechten Sache und schlug mühelos eine Brücke zu seinem Feldzug gegen die Terroristen des elften September und zum Krieg in Afghanistan. Während er redete, standen französische Feuerwehrmänner Parade zu Ehren ihrer Berufskollegen, die am elften September umgekommen waren. Und eines Tages wird man auch zu Ehren der Opfer in Afghanistan und anderswo Paraden abhalten und große Worte sprechen.«
    Veronika nickt unsicher. Worauf will er hinaus?
    »Und nun aber, mitten im Getöse der Politik, das Schicksal eines einzelnen Menschen. An der Kirchturmspitze dieser Stadt, in der Mr Bush redete, hatte sich vor beinahe sechzig Jahren ein amerikanischer Fallschirm verfangen. Ein Mensch hing daran und bot den Nazis ein prächtiges Ziel. Seine Perspektive war klar, sein Schicksal besiegelt.«
    »Und jetzt passiert das große Wunder.«
    »Ob es ein Wunder war, weiß ich nicht. Erst mal war’s Taktik.«
    »Taktik?«
    »Strategie. Überlebensstrategie. Der Mann stellte sich tot. Er muss das gut gemacht haben, über Stunden. Er entging  damit seinem bereits beschlossenen Schicksal und durfte weiterleben.«
    Veronika wartet. Als nichts mehr kommt, sagt sie: »Ist das die ganze Geschichte?«
    »Das ist die ganze Geschichte. Sie ist vierzig Jahre vor deiner Geburt passiert.«
    »Das ist lange her.«
    Der Amerikaner zieht die Stirn hoch.
    »Ich weiß schon, gemessen an fünfzehn Millionen Jahren...«, spottet sie.
    Er nickt ihr anerkennend zu.
    »Haben Sie den Mann gekannt, der an dem Fallschirm hing?«
    »Er hieß John Steel. Gekannt habe ich ihn nicht.«
    »Ich dachte. Vielleicht sind Sie damals ja auch Soldat gewesen...«
    »Dafür war ich zu jung.«
    »Sagen Sie mir jetzt, wie alt Sie sind?«
    »Siebzig«, sagt der Amerikaner.
    »Oh... Und der andere? Mit dem Sie gefeiert haben?«
    »Der wurde zehn.«
    »Nein...! Sie haben mit einem Kind gefeiert? Wo?«
    Der Amerikaner steht auf. »Entschuldige mich, Nick, ich muss meinem Dienst nachgehen.« Er legt die Zeitung auf sein Bett und verlässt die Stube.
    Die Viertelstundenglocke schlägt zweimal. Veronika hört gleich darauf den Türmerruf. Sie kauert auf der Bank, die Beine umschlungen, den Kopf auf den Knien. In ihrem Rücken ist die solide alte Quadermauer, die Stein über Stein vom Marktplatz heraufreicht, in die schwindelerregende Höhe der Türmerstube, und die noch weiterwächst, hinauf zum Kranz und dann noch höher. Veronika macht die Augen zu. Sie fühlt den Turm und sich selbst im Turm und sieht ihn zugleich von außen, wie sie ihn beim ersten Mal aus der Ebene ragen sah.
    Als der Amerikaner zurückkommt, macht sie ein Auge auf. »So ein Turm ist etwas Seltsames...«
    »Hm.« Er lässt sich auf der Ofenbank nieder und schaut aufmerksam herüber.
    »Er steht einfach da, grau und uralt, und wartet«, sagt sie, beide Augen geöffnet. »Und dann, eines Tages«, sagt sie, »fängt er einen Fallschirm ein. Jetzt sind sie zu zweit. Ein Turm und ein Mann. Das ist doch seltsam, oder? Ich meine, der Turm war da und hat gewartet... Ich glaube, ich muss jetzt schlafen gehen, Mr James, ich rede schon lauter Blödsinn. Aber vielleicht ist ein Turm ja irgendwie magnetisch.«
    »Oder magisch.« Der Amerikaner lächelt.
    Veronika schiebt sich langsam von der Bank. An der Kante zögert sie.
    »Mr James, wenn man Ihnen Geschichten schickt, die mit einem Turm zu tun haben, sind dann auch solche darunter, in denen jemand... gesprungen ist?«
    »Glaubst du wirklich, die würde ich lesen wollen?«
    »Nein«, sagt sie und spürt, wie sie rot wird. »Eher nicht.« Sie steht nun auf und geht zur nächsten Fensternische, wo ihre Decken gefaltet am Boden liegen. Jeden Abend trägt

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