Das Wolkenzimmer
ein Knopf oder sonst was fällt runter.
»Die Füße, die Füße zuerst!«, keucht der Einarmige.
Jascha hebt die Beine an und strampelt sich ins Loch. »Kruzitürken«, flucht der Mann, »gleich hab ich dich...«
Jascha bleibt mit der Stirn hängen, aber da wird er schon mit eiserner Gewalt ins Loch gezogen. »Lass doch endlich los!«, schreit der Einarmige, und Jascha lässt los.
Sie liegen ineinander verknäult in der Nische. Der Einarmige stöhnt und Jascha macht sich von ihm frei. Viel zu sehen ist nicht, denn am Ausgang der Nische sind Bretter kreuz und quer angelehnt, die Bretter, die früher innen waren. Innen ist dafür ein Haufen Löschsand, auf dem sie beide liegen.
Der Einarmige betastet sein Gesicht. »Du hast mir die Nase gebrochen«, knurrt er und sitzt dann aber ganz plötzlich aufrecht.
»Bub, was ist dir passiert?« Er zieht Jaschas Kopf heran. Jascha blinzelt. Etwas läuft ihm von der Stirn und über die Nase in die Augen.
»Nicht hinfassen!«, sagt der Einarmige. Er legt Jascha auf den Sand und sieht sich um. »Rühr dich nicht, ich bin gleich wieder da!«
Jascha rührt sich nicht. Er liegt gut auf dem Sand. Er ist im Turm, er ist in Sicherheit. Die Uhr schlägt halb neun.
33
Veronika läuft. Das erste Morgenlicht hat sie geweckt, zusammen mit einer Unruhe, die größer ist als an den Tagen vorher. Eine Konkurrenzläuferin ist nicht zu erwarten, denn der Turm ist abgesperrt. Rund dreihundertfünfzig Stufen hinunter und dasselbe hinauf. Nach einer kleinen Pause noch einmal. Bis alle Muskeln zittern und ihr der Kopf beinahe platzt.
Sie fällt schließlich keuchend auf ihr Lager.
Der Amerikaner kommt näher und betrachtet sie.
»Musst du alles übertreiben, Nick?«
Sie zieht sich eine Decke über den Rücken, denn sie ist im Bikini gelaufen, die Jeans war hinderlich. »Kann ich bitte den Schlüssel haben? Ich möchte duschen gehen«, schnauft sie ins Kissen.
»Er liegt auf dem Schreibtisch.«
»Den Turmschlüssel brauche ich auch.«
»Ich gehe mit dir hinunter, ich muss einkaufen«, sagt der Amerikaner.
Sie hebt den Kopf. »Soll ich das übernehmen?«
»Danke, nein, ich muss in Übung bleiben. Sonst hängst du mich noch ab.« Er lacht leise.
Beim Hinuntergehen sagt er: »Das Turmlaufen bekommt dir.«
Veronika verzieht das Gesicht. »Na ja, Sport war bisher nicht mein Ding.«
Er schaut sich über die Schulter nach ihr um und nickt ihr zu. »Wie verräterisch doch die Sprache ist.«
»Wieso?«
»Du hättest auch sagen können: Sport ist nicht mein Ding.«
»Ja, hätte ich. Waren Sie von Beruf eigentlich Sprachwissenschaftler?«
»Nein. Aber ein Gehör für Sprache und ein praktischer Beruf schließen einander nicht aus.«
»Welcher praktische Beruf?«
»Nun, ich hatte immer eine Neigung für Mathematik und Statik, meine räumliche Vorstellung war gut ausgeprägt, deshalb habe ich am Bau gearbeitet.«
»Ah ja.«
»Jetzt bist du enttäuscht.«
»Nicht direkt... Oder, ja, eigentlich schon. Es passt nicht zu Ihnen.«
»Was passt denn zu mir?«
Veronika überlegt. »Oh... Vielleicht der Job hier?«
»Eine späte Rechtfertigung für meine Wahl. Vielen Dank, Nick.«
Der Amerikaner sieht sich jetzt nicht um. Aber sie glaubt zu wissen, dass er lächelt.
Als Veronika vom Duschen zurückkommt, wartet er mit seiner Einkaufstüte an der Turmtür auf sie. Die Tüte ist größer und praller als sonst, er hat für zwei Tage eingekauft und auch die Zeitung hineingesteckt.
»Hunger«, ruft sie ihm fröhlich zu, denn der ganze wundervolle Samstag liegt vor ihr, an dem alles geschehen kann, geschehen sollte, geschehen muss.
»Und übrigens: Wagen Sie es nicht, mich vor Mattis Nick zu nennen, das darf nur er. Und er heißt eigentlich Matthias!«
»Falls er hier auftaucht, Lady.« Der Amerikaner sperrt ab, es ist noch zu früh für Besucher.
Veronika ist schon unter dem Auge des Turms, der Kamera.
»Wenn er hier auftaucht. Ich verstehe mich auch auf Sprache!«
»Ich weiß«, sagt der Amerikaner, als er sie eingeholt hat.
Sie drückt sich an die Wand, um ihn vorbeizulassen, und tastet ihre Plastiktüte ab, ob sie auch nicht das Shampoo in der Duschkabine vergessen hat.
»Lady zum Beispiel klingt... unfreundlich.«
Er dreht sich nach ihr um. »Ja, vermutlich. Was für rosige Wangen du hast«, sagt er, als sie aufsieht.
Sie grinst. »Schon das zweite Kompliment heute. Sie verwöhnen mich noch.«
»Keine Sorge. Verwöhnen ist nicht mein Stil«, sagt der Amerikaner.
Die
Weitere Kostenlose Bücher