Das Wolkenzimmer
sie sie hinaus in den Vorraum und bereitet sich ein Lager unter dem Ostfenster.
»Nick?«
Sie dreht sich in der Tür um, die Decken auf den Armen.
»Wenn ein Mensch und ein Turm sich nahekommen, sollte es ausgehen wie bei John Steel, denkst du nicht?«
»Ja, vielleicht«, sagt Veronika.
32
Jascha muss nicht mehr die Schuhe ausziehen, um sicher auf den Balken zu gehen. Er kennt nun auch jeden Winkel unter dem Dach und den Dachstuhl selbst. Das Gebälk ist mehrstöckig, mit Querbalken und schrägen Stützbalken, und alles ist grob verzapft oder mit herausstehenden Holznägeln verbunden. An manchen Stellen sind die Balken dünner, an anderen dicker, sodass man sich beim Klettern einigermaßen festhalten kann.
Der Einarmige kündigt sich gerade an: ein Scharren, wenn er einen Ziegelstein wegnimmt und ein heller, trockener Ton, wenn er ihn auf den Stapel legt. Das Mauerloch wird größer, dann steckt der Mann den Kopf in den Dachboden.
»Junge?«, ruft er leise hinunter und fährt zusammen, als die Antwort von oben kommt.
»Hier!« Jascha sitzt in einer schrägen Holzverbindung unter dem Firstbalken, so nah, dass ihn der Mann mit seiner ausgestreckten Hand beinahe am Fuß packen könnte.
Der Einarmige verdreht den Hals, um diese Überraschung genau zu sehen.
»Wie bist du denn da hinaufgekommen?«
»Geklettert«, sagt Jascha. »Wenn Sie mir ein Seil geben oder ein Brett rüberlegen, bin ich gleich kein Zeitzünder mehr!«
Einen ganzen Tag lang hat er sich auf diesen Satz gefreut. Seit es ihm morgens zum ersten Mal geglückt ist, bis zum First hinaufzuklettern.
Der Einarmige schaut den schrägen Balken an, auf dem Jascha sitzt. »Da hält kein Brett, das gibt ein Unglück.« Er wirft einen Blick in die Tiefe und beißt auf seine Unterlippe. »Wie willst du es mit einem Seil machen?«
»Ich schlinge es um den obersten Balken. Dann verknote ich es und habe eine Schaukel.«
»Und wenn du dich nicht halten kannst?«
»Ich kann mich halten.« Jascha macht seine Stimme so fest wie Hermann früher, wenn etwas Schlimmes zu berichten war.
Der Einarmige überlegt. »Ich würde den Knoten lieber selbst ziehen. Aber das geht nicht.«
»Ja«, sagt Jascha. »Ich muss ihn ziehen.«
»Kannst du noch sitzen?«
»Ja.«
Der Einarmige prüft den Abstand vom Firstbalken zum Mauerloch. Er murmelt etwas und verschwindet. Jascha hört, dass er am Seil herumschneidet, bestimmt mit dem Dolch, den er immer an seinem Gürtel trägt. Er muss alles einhändig machen und schafft es auch, aber klettern könnte er nicht, denkt Jascha.
Der Einarmige taucht wieder auf. Er wirft das Seil und lässt das Ende erst los, als Jascha den Anfang sicher in der Hand hält.
Der Knoten ist das Schwierigste, denn das Seil ist dick und spröde. Jascha schlingt seine Beine um den Sitzbalken, weil er beide Hände braucht. Er schwitzt. Er hört den Mann vor Aufregung leise schnauben und sieht, wie er die Hand bewegt, als jucke sie ihn.
Und dann kommt auch noch eine geflüsterte Mahnung: »Ich hab zugesperrt, aber du weißt ja, der Stadtpolizist Steidle hat auch einen Turmschlüssel!«
»Man hört ihn kommen, er ist schwer und langsam«, sagt Jascha gepresst, er braucht seine ganze Kraft für den Knoten.
»Probier zuerst mit den Füßen, ob er hält«, verlangt der Einarmige. »Nein, warte, lass lieber mich!« Er streckt seinen Arm aus und erreicht das Seil. Er zieht und zerrt daran, als wollte er den Firstbalken herunterreißen.
»Das hält«, knurrt er und verschiebt den Knoten sorgsam nach oben. »Wenn ich nur zwei Hände hätte!«
»Ich schaff’s«, sagt Jascha.
»Schau nicht hinunter!«
Jascha packt das Seil mit beiden Händen.
»Lass es bloß nicht los, bevor ich dich nicht sicher habe!«
Jascha muss jetzt ein wenig warten. Denn er hat doch hinuntergeschaut und sein Herz hämmert.
»Traust du dich nicht?«
»Doch. Gleich.« Dieses Herzklopfen drückt ihm noch die Luft ab.
»Es hält doch?«, fragt er, um Zeit zu gewinnen.
»Es hält«, sagt der Einarmige. »Aber du bist vielleicht schwerer, als du jetzt denkst. Stell dir das vor. Rechne damit!«
Jascha nickt.
»Wenn du den ganzen Dachstuhl hochklettern kannst, dann kannst du das auch.«
Jascha nickt wieder. Er atmet tief ein, er konzentriert sich. Dann rutscht er vom Balken und fällt ins Seil. Er ist wirklich schwer, sehr schwer, der Mantel ist schuld, jetzt hängt er da, haushoch über dem Abgrund. Der Einarmige hat ihn am Mantel gepackt, dann am Hosenbund, etwas reißt,
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