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Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irma Krauss
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aller Ruhe hinter seiner Theke sitzt! Sie schäumt, wenn sie an sein amüsiertes kleines Grinsen denkt, das er sich manchmal leistet und heute ganz sicher. Sie spürt hilflose Tränen kommen, sooft sie Mattis auf den Turm zugehen sieht, sich seinen Blick auf die Kreidebotschaft vorstellt, das Aufblitzen seiner Augen. Vielleicht putzt er die Brille, um sicher zu sein, dann aber fängt er zu laufen an. Er ist viel sportlicher als sie, er nimmt den Wendelturm in einem Zug, nein, das geht nicht, es kommen immerzu Leute entgegen, und er muss sich an die Wand drücken, aber dann, dann!, läuft er an der Nische vorüber und ist im Hauptturm und weiß nicht, wie nahe sie sich für einen Moment waren.
    Und was, wenn er oben ist und der Amerikaner ihn nicht erkennt? Mattis wird doch nach ihr fragen, das wird er doch  auf jeden Fall tun, denn sie hat es ja auf die Wand geschrieben?
    Die Turmuhr, an die Veronika sich längst gewöhnt hat, die sie heute aber überdeutlich hört, sagt ihr alle Viertelstunde die Zeit, und das sollte sie besser nicht tun, denn eine Stunde würde vielleicht schneller vergehen, wenn die penetrante Uhr sie nicht in vier Teile zerlegen würde.
    Veronika faltet das Handtuch zur Unterlage und streckt sich darauf aus. Auf dem Rücken liegend, schaut sie in die Balkenetagen hinauf und ist für einen schwachen Moment versucht zu grinsen, als sie sich vorstellt, irgendjemand aus der Schule sähe sie jetzt. Das Grinsen gerät ihr zur kläglichen Grimasse. Sie macht die Augen zu; wenn sie einschläft und nach fünf Stunden wieder aufwacht, ist alles vorbei und überstanden, und vielleicht wartet dann Mattis bereits in der Türmerstube, oder er ist es selbst, der ihr die Tür aufsperrt...
    Hinter den geschlossenen Lidern sieht sie das Gebälk und irgendwo da oben sitzt der Schlaf wie eine weiche, große Eule und beobachtet sie. Komm herunter, denkt sie, komm herunter, lass mich vergessen und träumen wie im Schwimmbad. Dort konnte sie doch ihren Tagtraum jederzeit in einen leichten Schlaf hinüberretten, das Kindergeschrei war Begleitmusik. Wie viel einfacher müsste es hier sein, in der feierlichen Stille unter dem Kirchendach. Warum nur lässt sich ein hilfloser, leerer Kopf nicht abschalten?
    Veronika resigniert und setzt sich wieder auf. Sie lehnt den Rücken an einen Balken und malt Muster in den feinen Staub auf dem Metallsteg. Sie halbiert die verbliebenen Kaugummistreifen und hat nun vier Hälften, mit denen sie die fünf Stunden überbrücken kann. Sie legt sich eine Hälfte auf die Zunge und spielt damit, ohne zu kauen - ob das durchzuhalten ist, bis die Turmuhr wieder schlägt? Sie fängt an, Sekunden zu zählen, ihre Armbanduhr ist auf dem Bettzeug  liegen geblieben und das Bettzeug und ihre sonstigen Sachen hat der Amerikaner heute Morgen selbst aufräumen müssen.
    Beim Sekundenzählen wird man wahnsinnig, findet sie, es ist noch schlimmer, als auf den Schlag der Uhr zu lauern. Sie sammelt das Kaugummipapier ein und streicht es glatt.
    Eine Stunde später zerreißt sie es sorgfältig in feine Streifchen, aus denen sie Buchstaben formt. MATTIS + VRONI  schreibt sie. Das sieht hübsch aus, und sie weiß nicht, warum sie bei dem Anblick das Gesicht verziehen muss. Hübsch sieht es aus, aber auch ein wenig - verlogen? Oder überholt? Oder zu schön, um wahr zu sein?
    Eigentlich sieht es zum Weinen aus. Und das kann nichts Gutes bedeuten. Nein, mit VRONI ist es vorbei.
    Veronika schreibt MATTIS + NICK. Das ist schon ehrlicher. Aber ganz ehrlich auch wieder nicht. Sie entfernt probeweise das Pluszeichen, was aber nicht hilft. Sie setzt das Pluszeichen wieder hinter MATTIS und entfernt dafür NICK, den Namen mag sie sowieso nicht mehr.
    MATTIS + steht da. Veronika beißt sich auf die Lippe. Jetzt ist es ehrlich.
     

38
    Jascha will nicht mehr in den Kamin. Der Einarmige sagt, es ist ihm recht, das waren seine bisher schlimmsten Tage im Turm, und es muss jetzt auf jeden Fall ein Ende haben, sonst denkt seine Frau noch, ihm ist etwas passiert, weil er sich nicht mehr blicken lässt. Zu essen muss er auch holen.
    »Zeig deinen Kopf«, sagt er. Dann wickelt er den Verband ab.
    »Das heilt. Reiß bloß die Kruste nicht weg, lass deine Finger davon. Mach mal ein paar Klimmzüge!«
    Balken gibt es genug im Turm, und Jascha hat jeden Morgen und Abend, wenn der Turm geschlossen war, Balancieren und Klettern geübt, vorsichtig, wegen der Wunde. Die hat es ausgehalten und sie bricht auch bei den Klimmzügen

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