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Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irma Krauss
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Treppenschacht her, bevor er endgültig geht.
    Jascha lauscht. Lange hört er nichts. Die Viertelstundenglocke schlägt dreimal. Ohne die Stundenglocke kann es jede Zeit sein. Vielleicht hat er so lange geschlafen, dass es Nacht ist. Nein, das ist Unsinn, der Einarmige hat von heute Abend gesprochen, also ist es Tag. Was macht der Mann bloß? Wäre er zum Eimer gegangen, hätte Jascha die Treppe gehört, der Verschlag ist ein Stockwerk tiefer.
    Jascha bewegt sein eingeschlafenes Bein, er kann nicht mehr anders, und sein Hals lässt sich vielleicht schon gar nicht mehr gerade biegen. Er stöhnt leise.
    Schritte durchqueren den Vorraum. Ein Schuh tritt gegen die Eisentür. Der Einarmige beugt sich nieder und zischt: »Du blöder Hund! Hab ich dir nicht gesagt, du darfst nicht rascheln? Der Steidle hat dich gehört! Ich kann nur hoffen,  er glaubt, er hat einen Vogel gehört! Wenn der wirklich was weiß, muss er es melden, sonst ist er selber dran!« Der Einarmige ist so zornig, dass er nicht einmal flucht.
    Jascha wagt kaum mehr zu atmen.
    Die Uhr schlägt zwei. Wenig später kommen Leute herauf. Dem raschen Gepolter nach sind es junge, und Jascha hört auch schon ihre rufenden Stimmen, ihr Reden und Lachen. Es sind Mädchen, und wenn sie im Trupp kommen, haben sie wahrscheinlich ihre BDM-Uniformen an, sie sind doch alle im Bund-Deutscher-Mädchen. Bestimmt schwärmen sie aus und haben ihre Augen und Finger überall, und der Einarmige kann nicht von seinem Pult weg, das er ein wenig gedreht hat, um den Kamin wenigstens aus dem Augenwinkel zu sehen.
    Jede Müdigkeit ist Jascha vergangen. Aber er weiß bereits, dass sie wiederkommen wird und dass ihn nur die Schmerzen in allen Muskeln davor bewahren werden, einzuschlafen.
    Kurz vor dem Schließen des Turms flüstert der Einarmige an der Eisentür: »Ich gehe jetzt runter. Es dauert länger als sonst, ich muss den Eimer mitnehmen, sonst kommt der Offiziant herauf. Und ich kann nicht mal bei ihm bleiben, weil ich unten sein muss, wenn er oben die Spindel dreht. Lebst du überhaupt noch?«
    »Ja«, sagt Jascha.
     

37
    Zu gegebener Zeit - was, bitte, heißt das? Veronika hat das Wort des Amerikaners, dass er sie herauslässt. Aber wann, das bestimmt er. Ihr Magen ist leer, ihr Kopf auch, ihre Arme und Beine sind matt, als gehörten sie einer Kranken, nur ihre Stimmung ist noch in der Lage zu wechseln, von mutloser Ergebenheit zu wütendem Zorn und zum heulenden Elend.
    Das Handtuch hat sie nach einer Weile zum Trocknen aufgehängt, das Shampoo auf den Boden gestellt, und als sie dann ohne Hoffnung die Plastiktüte umdrehte, fiel ein geöffnetes, halb durchweichtes Kaugummipäckchen heraus. Neun Streifen hat sie gezählt und nebeneinander zum Trocknen ausgelegt und dabei Freude empfunden, denn die Streifen waren ein wenig zerkrumpelt, aber sonst in Ordnung.
    Neun Kaugummis sind etwas, wenn man sonst nichts hat. Wenn man immerzu an das Frühstück denken muss, an die knusprigen Brötchen und an den Tee, der schon in der Stube bereitgestanden hat, wenn man zwanghaft und ausschließlich ans Frühstück denkt, weil der Körper nach Essen verlangt.
    Eine ganze Stunde lang hat Veronika den Amerikaner am Tisch sitzen sehen, gegenüber ihrem eigenen leeren Platz, und hat wütend versucht, seine krausen Gedanken zu lesen, seine Vorstellung von Chance, und ist dabei in blinden Zorn geraten, denn das hier sieht nicht nach Chance, sondern nach  Strafe aus. Verdammt soll er sein! Wenn er ihr wenigstens etwas zu essen gegeben hätte.
    Er hat sie auch nicht herausgelassen, als er kurz vor neun zum Aufsperren hinunterging. Mit Herzklopfen stand sie an der Tür, aber er ging ohne das leiseste Zögern in den Treppenturm und die hundert Stufen hinab, und als er beim Zurückkommen wieder nicht den Schritt verhielt, trommelte sie an die Tür.
    »Verflucht!«, hat sie geschrien.
    Jetzt ist seit Stunden ein Kommen und Gehen, ein Auf und Ab im Turm, rufende Stimmen, Gelächter, manche Leute pfeifen, wenn sie herunterkommen.
    Pro Stunde ein Kaugummi, und als nur noch zwei Streifen übrig sind, weiß Veronika, dass der Amerikaner sie bis zum Abend warten lassen wird. Das sind weitere fünf Stunden. Sie ist nahe daran zu schreien. Die Leute gehen ja dicht an ihr vorbei, man wird sie hören, man wird die Polizei verständigen oder den Amerikaner - aber beides kann nicht in ihrem Interesse sein, und das weiß er natürlich.
    Veronika knirscht mit den Zähnen. Wenn sie sich vorstellt, wie er jetzt in

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