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Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irma Krauss
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nicht auf.
    »Schön. Dann bringe ich dich heute Nacht hinunter. Schau, dass du bis zum Morgen weit weg bist. Im Umkreis haben sie die Dörfer abgesucht, da würde ich an deiner Stelle nicht bleiben, denn es hat die Leute nervös gemacht. Geh Richtung Süden, das dürfte... Was ist denn los?«
    Jascha ist aschfahl geworden. Er starrt den Mann an, als hätte er ihn noch nie gesehen.
    Der schreit jetzt mit unterdrückter Stimme: »Ja, hast du denn gedacht, dass du hierbleiben kannst? Ja, bist du verrückt? Kruzitürken und alle Wetter!« Er marschiert mit zornigen Schritten zum nächsten Fenster. Dort hält er sich am Sims fest, schaut hinaus und murmelt erregt vor sich hin.
    Jascha befeuchtet seine Lippen und sagt mit zittriger Stimme: »Darf ich nicht wieder ins Dach?« Er wartet mit Herzklopfen auf Antwort.
    Der Einarmige stößt, ohne sich umzudrehen, böse hervor: »Und wie lange, denkst du, soll das gehen?«
    »Mein Bruder holt mich. Sobald er kann...«
    »Dein Bruder. Und wo ist dein Bruder?«
    »In Amerika.«
    »So. Und warum bist du dann hier?«
    Das ist die Frage, die sich Jascha seit vier Jahren stellt. Es gibt keine andere Antwort darauf als die, dass Onkel Simon nur Hermann mitnehmen wollte, dass ihm Jascha einfach zu klein war.
    »Sie konnten mich nicht mitnehmen, ich war zu klein«, sagt er und beißt sich auf die Lippe, damit sie zu zittern aufhört.
    »Soll das heißen, deine Eltern...?« Das Fensterglas, das der Einarmige beim Sprechen anhaucht, beschlägt sich. »Was sind denn das für Eltern. Wenn ich meine zwei Buben...« Er bricht ab, um wieder den Kopf zu schütteln.
    »Nicht unsere Eltern«, sagt Jascha. »Onkel Simon und Tante Sophie. Unsere Eltern sind... tot.«
    Dem Einarmigen fällt dazu nichts ein. Jascha schaut ihn an, wie er am Fenster steht; die eine Hand liegt auf dem Sims, der andere Jackenärmel ist leer und umgeschlagen.
    Jascha redet jetzt einfach drauflos. »Hermann hat gesagt, er holt mich. Ich muss aufpassen, dass ich nicht abgeholt werde und genug esse, und wir sind nämlich die Söhne von Max und Fanny Rosen...«
    Da fällt dem Mann die Hand vom Sims.
    »Was?«, sagt er und dreht sich um. »Du bist... Wie heißt du?«
    »Jakob Rosen. Aber man sagt Jascha.«
    »Von dem Max Rosen, den man...?«
    Jascha nickt stumm.
    Noch nie hat ihn der Einarmige gefragt, wer er eigentlich sei. Wenn er ihm zu essen gibt, schaut er grimmig weg, auf dem Strohsack dreht er ihm den Rücken zu. Weil ihm seine Frau, die nicht mehr redet, das Reden langsam abgewöhnt, und recht hat sie, hat er gesagt. Und weil seine Buben gefallen sind.
    Seine Buben - aber dürfen Kinder schon in den Krieg? Jascha traut sich nicht zu fragen. Wo Russland ist, weiß er aus dem Lexikon. Dort sind die Jungen des Einarmigen jetzt. In einem Heldengrab. Dieses Wort hat aber nicht der Einarmige gesagt, das hat Jascha zusammen mit vielen anderen bedeutungsvollen Worten aus einem Lautsprecher gehört. Bei einer Kundgebung auf dem Marktplatz, als aus allen Fenstern und auch vom Turm die Fahnen flatterten. Als die Vereine aufmarschierten und die Jungen und Mädchen ihre Uniformen trugen und nur die Leute in den Judenhäusern hinter geschlossenen Türen bleiben mussten. Wo so viele Hakenkreuze waren, durfte sich kein Stern zeigen. Wenn du den Stern abtrennst, hat Tante Kühn gezischt, nähe ich ihn dir nicht mehr an, und wenn sie dich erwischen, dann sag bloß nicht, dass du bei uns wohnst!
    Als es den Stern noch nicht gab und einmal alle Kinder schulfrei hatten und mit Fähnchen zum Bahnhof liefen und die Straßen von Menschen wimmelten, hat Jascha sich der Menge angeschlossen, denn er wusste von Onkel Kühn, dass der Führer durch den Bahnhof fahren würde. Die Kinder schrien und jubelten, als der Zug im Schritttempo vorüberrollte. Die Musik spielte, und ein Mann hat Jascha auf seine Schultern heben wollen, aber ein anderer sagte: Nicht, das ist ein Judenbub. Und so hat Jascha den Führer nicht gesehen.
    Es wäre aber wichtig gewesen. Er hätte vielleicht eine Antwort auf die Frage bekommen, ob es ein und derselbe Führer sein kann, dem die Kinder zujubeln und der seine Eltern hinrichten ließ, man müsste das doch sehen können.
    Der Einarmige reibt sich das Gesicht mit der Hand. Er lehnt in der Fensternische. Er sagt: »Da warst du aber noch ganz klein, das ist eine Weile her.«
    »Ich war vier.«
    »Und bist jetzt?«
    »Ich werde zehn.«
    »Und du weißt...?«
    Wieder nickt Jascha.
    »Alles?«, fragt der Einarmige.
    »Hermann

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