Das Wolkenzimmer
hat es mir gesagt. Weil wir die Söhne von...«
»Ja, schon gut.« Der Einarmige stößt sich vom Fenstersims ab und winkt mit dem Kopf. »Komm was essen.«
Am Morgen bringt er Jascha ins Dach und sperrt hinter ihm die Tür zu.
39
Die letzten Besucher dürften den Turm verlassen haben. Die Schritte auf der Treppe haben aufgehört, die Stimmen sind verstummt. Jetzt kommt ein einzelner leichter Schritt vorbei. Da er nicht zögert, handelt es sich wohl doch noch um einen verspäteten Besucher.
Veronika wartet angespannt an der Tür. Die Uhr hat vor einer Weile schon die Dreiviertelstunde geschlagen, gleich schlägt sie acht. Jetzt sollte eigentlich der Amerikaner herunterkommen. Sie ist kribbelig vor Ungeduld, sie kann kaum mehr ruhig stehen.
Vier Doppelschläge der kleinen, hellen Glocke, acht tiefe Schläge der größeren, dunklen Glocke.
Veronika wartet. Die Minuten vergehen, und ihr wird klar, dass es doch der Amerikaner gewesen sein muss, der als Letzter hinuntergegangen ist. Er trägt jetzt die Anzeigentafel herein, er lässt sich Zeit, es ist ein milder Abend, er schaut sich auf dem Platz um, er trödelt, bevor er hereinkommt und die Tür versperrt, seine Bewegungen sind gelassen, er hastet nie …
Die Minuten dehnen sich unerträglich. Der Mann wird doch nicht essen gehen? Möglich wäre es, normal wäre es, zwingt sich Veronika einzuräumen, normal wäre es, an einem Samstagabend einfach mal essen zu gehen. Aber dann müsste er sie doch mitnehmen, sie hat seit vierundzwanzig Stunden nichts im Bauch! Die Empörung schnürt ihr den Hals zu, sie könnte gerade mal krächzen, wenn sie den Mund aufmachen würde, dabei ist ihr aber nach Schreien!
Dann hört sie etwas - seinen Schritt. Sie fährt von der Tür zurück, so soll er sie nicht sehen. Er soll sie stolz und unnahbar vorfinden. Na und, wird sie höchstens sagen und mit den Achseln zucken, na und, es war doch ein netter Tag, und wie war’s bei Ihnen?
Sie rennt ein Stück über den Steg und lehnt sich dann lässig gegen einen Balken. Ihr Herz klopft schnell. Jetzt, jetzt wird der Schlüsselbund klirren, was für ein köstliches Geräusch, wenn sich der Schlüssel im Schloss dreht. Dann aber nicht in die Richtung der Tür zu schauen, wird sehr schwerfallen, kühl und überlegen zu bleiben und dem Amerikaner nicht den kleinsten Triumph zu gönnen.
Der Schlüsselbund klirrt nicht. Kein Schlüssel dreht sich im Schloss. Veronika strengt ihr Gehör an und vergisst fast zu atmen. Ist er extra leise, will er sie überraschen? Die Staubpartikel in der Luft verwandeln sich vor ihren Augen in Sternchen, gleich wird sie vor Atemnot und Hunger umfallen.
Sie umklammert den Balken, bis der Schwindel nachlässt und die Sternchen verschwinden. Dann geht sie unsicher und horchend über den Steg Richtung Tür, beobachtet die Tür, um gelassen stehen zu bleiben, sobald sie aufgeht - aber die Tür geht nicht auf. Nichts passiert, überhaupt nichts. Es ist völlig still; die Schritte - falls sie wirklich Schritte gehört hat - sind vorübergegangen.
Veronika beschließt, das nicht zu akzeptieren. Dann hat sie sich eben getäuscht, dann waren gar keine Schritte vor der Tür, dann ist der Mann doch essen gegangen. Oder nein, er holt etwas, er holt etwas für zwei Leute, beim Chinesen oder in der Pizzeria - das ist es, das macht er! Er wird sie dafür belohnen, dass sie den ganzen Tag ausgehalten hat, länger als dreizehn Stunden, dass sie keinen Mucks gemacht hat. Sie muss dann nur daran denken, beim Essen nicht gierig zu sein. Was ist das schon, mal einen Tag lang zu hungern, manche Leute machen Diäten und hungern eine ganze Woche lang.
Veronika pinkelt auf dem Steg hockend ins Gewölbe, sie stellt sich grimmig vor, dass es durch die Kirchendecke tropft. Dann setzt sie sich auf ihr Handtuch und richtet sich auf eine weitere Viertelstunde Warten ein.
Jetzt schlägt es bereits halb neun. Im Straßenverkauf muss man gelegentlich Schlange stehen, beim Italiener noch mehr als beim Chinesen, also gibt sie eine weitere Viertelstunde zu, und dann noch eine. Um neun fängt sie unvermittelt zu heulen an - sollte er jetzt noch mit Essen kommen, wird sie es ihm aus der Hand schlagen! Sie wird an ihm vorbeirauschen und nach oben rennen, sie wird ihren Kram packen und zornbebend verlangen, dass er den Turm aufsperrt und sie hinauslässt, andernfalls will sie es vom Kranz in die Stadt hinabschreien, irgendjemand wird aufmerksam werden und Hilfe schicken …
Sie wird sich
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