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Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irma Krauss
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von ihrem bisschen Restgeld etwas zu essen kaufen, und danach wird sie weitersehen; in der warmen Fleecedecke hat sie bereits eine Nacht im Freien überlebt, und in dieser kommenden Nacht wird sie im Turmeingang liegen, um da zu sein, wenn Mattis kommt.
    Falls Mattis kommt …
    Mattis kommt nicht, sie weiß es auf einmal und ihre Verlassenheit ist jetzt grenzenlos. Nach einer weiteren Stunde - es ist nun dunkel - wünscht sie sich nur noch die schöne, warme Fleecedecke, die ihr schließlich gehört. Nicht viel gehört ihr, Mattis schon gar nicht, aber die Decke, die gehört ihr, die hat sie sich gekauft, und keiner hat ein Recht, sie ihr vorzuenthalten, auch kein verrückter Amerikaner.
    Veronika sitzt am Boden vor der Tür, hat die Arme um die Beine geschlungen und weint. Sie weint um ihre Decke.
    Nicht dass sie frieren würde, es ist warm hier, aber wenn sie den Kopf auf ihre schöne bunte Decke legen könnte, wäre das wie eine kleine Zärtlichkeit, auch wenn die Decke schwarz wäre wie alles hier, denn es ist nun so dunkel, dass sich nicht einmal mehr ihre Hand abzeichnet. Den Schalter an der Tür hat sie ausprobiert, als sie noch sehen konnte. Er gab ein wirkungsloses Klick von sich und da ist ihr das Schaltbrett in der Türmerstube eingefallen mit den bezifferten Schaltern.
    Der Amerikaner ist ein Sadist, ohne Zweifel. Nicht nur dass er sie einsperrt und hungern lässt. Nein, er will, dass sie vor Angst wahnsinnig wird, das will er! Denn wenn einer weiß, welche Mondphase gerade ist, dann er. Neumond ist zurzeit! Der Vollmond schien noch in ihrer ersten Nacht auf dem Turm, dann nahm er ab, und seit einigen Nächten ist kein Mond mehr da oder allerhöchstens inzwischen ein dünnes Sichelchen, das nicht genügend Licht hat, um durch Dachritzen zu leuchten.
    Selbst wenn man einen endlos langen Tag in diesem Raum zugebracht und in all den Stunden nichts Lebendes gesehen hat, ist die Fantasie bei Nacht imstande, den Dachboden zu bevölkern. Veronika wimmert leise vor Entsetzen, sie schlingt das Badetuch um sich, als könnte das sie gegen unbekannte Füßchen und zudringliche Finger schützen, sie sitzt auf der Plastiktüte, den Rücken fest gegen die Tür gepresst, und fängt an, englische Vokabeln aufzusagen, alle mit A, die ihr einfallen, dann die, die mit B beginnen.
    Nach den Vokabeln sind die Lieder dran: Songs aus den Charts, Kinderlieder, Volkslieder aus ihrer Grundschulzeit, Kunstlieder aus dem Musikunterricht am Gymnasium - Bruchstücke und von allem etwas. Veronika singt leise, um niemanden auf sich aufmerksam zu machen, der vielleicht am anderen Ende des Dachbodens lauert, sie singt mit dünner, bebender Stimme, sie versucht, sich an Texte zu erinnern, und schluchzt manchmal gegen ihren Willen auf. Als ihr kein  weiteres Lied mehr einfällt, rutscht sie ein wenig tiefer und murmelt Primzahlen, Länder und Hauptstädte, Titel von Büchern, die sie gelesen hat, in manchen Büchern bleibt sie ein wenig hängen …
    Als sie wieder aufwacht, hat sich nichts geändert. Es ist rabenschwarz, sie liegt auf dem harten Boden, alle Knochen tun ihr weh und der Magen auch - nur die Tür ist nicht mehr da. In panischem Schrecken tastet sie umher, ihre Zähne schlagen aufeinander, und sie findet schließlich die Tür, die vorher in ihrem Rücken war, bei ihren Knien.
    Die Tür ist ihr einziger Anhaltspunkt, die darf sie nicht mehr verlieren, denn sonst fängt sie doch noch vor Angst zu schreien an. Die Tür ist ihre einzige Verbindung zum Turm. Wer den Schlüssel hat, ist mit einem Schritt drinnen oder draußen. Den Schlüssel hat der Amerikaner, und nun stellt sich plötzlich ein neuer Gedanke ein, der schlimmste, den Veronika bisher zuließ, und obwohl sie ihn entsetzt zu verdrängen sucht, bleibt er: Der Amerikaner ist ein Perverser, der wartet, bis sie vor Hunger und Angst so geschwächt ist, dass sie sich nicht mehr wehren kann. Wer weiß, was dem einfällt, er hat sie im Bikini gesehen, und danach hat er sie eingesperrt, vorher ist er auf so was nicht gekommen. Bestimmt hängt es mit dem Bikini zusammen, verflucht, wie konnte sie einen solchen Fehler begehen - der Mann sitzt immer auf dem Turm, der hat plötzlich kapiert, dass es noch was anderes gibt, und sie ist Freiwild, denn niemand weiß, wo sie ist.
    Veronika rückt von der Tür ab, als stünde er dahinter, und wenn sie geglaubt hat, das sei bereits die übelste Fantasie gewesen, so hat sie sich getäuscht. Denn jetzt ist ihr, als hätte er ein Messer in

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