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Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irma Krauss
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der Hand, vielleicht will er sie schlachten und zerlegen und sie dann den Ratten überlassen. Er ist der Herr der Schlüssel, und die Ratten sind mit ihr fertig, ehe irgendein anderer Mensch den Dachboden betritt.
    Sie hat die Augen weit aufgerissen und atmet durch den geöffneten Mund, so geräuscharm wie möglich, die Angst schnürt ihr die Luft ab, sie rutscht vorsichtig von der Tür weg, mit dem Rücken an der Wand, an der sich die Plattform entlangzieht. An der Wand muss sie bleiben, sonst könnte es sein, dass sie ins Gewölbe fällt. Ihre Glieder schlottern, aber der Kopf arbeitet, er sagt ihr jetzt, es wäre gut, wenn die Shampooflasche dicht an der Tür stünde, dann stolpert der Amerikaner vielleicht darüber.
    Sie rutscht wieder zurück und tastet nach der Flasche, im beklemmenden Gefühl, er könnte bereits auf der anderen Seite der Tür stehen. Sie findet die Flasche und rückt sie an die Tür. Ein leises Schaben, vielleicht von einem Steinchen am Boden - sie hält erschrocken die Luft an, aber hinter der Tür bleibt es still, und Veronikas galoppierender Herzschlag fällt allmählich in eine gemäßigtere Gangart.
    Und da hat sie plötzlich eine geniale Idee. Sie nimmt die Flasche und öffnet sie. Dann leert sie sie bei gestrecktem Arm an der Tür aus. Es schmatzt leise, die Flasche wird leicht und leichter. Ihr Arm zittert, so weit muss sie ihn strecken, um vom auslaufenden Shampoo nicht erreicht zu werden. Sie passt auf, die leere Flasche nicht zu drücken und kein Luftgeräusch zu erzeugen. Zuletzt lässt sie die Flasche liegen und rutscht in der pechschwarzen Finsternis die Mauer entlang, bis sie glaubt, nun ungefähr an ihrem anderen Ende angekommen zu sein, wo ein zweiter Metallsteg über die Länge der Halle führt, ein Fluchtweg, sobald sie etwas sehen kann.
    Sie hüllt sich erneut in das Handtuch und drückt den Rücken an die Wand. Angesichts der möglichen Gefahr, die von einem Menschen ausgeht, sind jetzt alle Fantasiegestalten verblasst, und sie fürchtet keine huschenden Wesen im Raum mehr, sondern nur noch den, der zur Tür hereinschleichen kann. Sie hört sich gepresst atmen, ihre Lunge macht sich  klein vor Angst, die wenige Luft, die hereinkommt, will gleich wieder zitternd hinaus.
    So geht das nicht, man muss ruhig und tief atmen, man muss atmen, atmen und denken, denn sobald die Tür aufgeht, braucht man alle Geistesgegenwart, und zwar sofort.
    Der Raum ist dunkel und riesig und unpersönlich wie das All. Doch im All leuchten wenigstens Sterne, sie verströmen ihr geheimnisvolles Licht, sie sind freigebig und großzügig, sie fragen nicht, sie schenken. Veronika legt sich auf den Rücken und blickt nach oben. Sie sucht in der undurchdringlichen Finsternis das Dach, von dem sie weiß, dass es da ist, und in ihm eine Fuge, eine Ritze. Ihr Atem findet seinen Weg allmählich leichter.
     

40
    Man hat alle Glocken bis auf eine weggeholt. Das war mit Aufruhr und großem Lärm verbunden und Jascha hat sich sicherheitshalber am anderen Ende des Daches versteckt.
    »Letztes Mal haben sie auch die Glocken eingeschmolzen und dann haben wir den Krieg verloren«, sagt der Einarmige düster. »Wenn das Material einmal nicht mehr reicht...«
    Er wartet darauf, dass Jascha die Wasserflasche leer trinkt, denn er muss sie mitnehmen, es darf nichts im Dach gefunden werden im Fall des Falles, obwohl das dann wahrscheinlich auch nichts mehr nützt. Er ist sowieso unvorsichtig genug gewesen; der Stadtpolizist Steidle muss das provisorisch geschlossene Mauerloch in der Nische bemerkt haben, denn er hat ihm einen Rat gegeben, als man die Glocken holte. Der Bannführer, hat er gesagt, ist ein ganz Eifriger; kann sein, dass der mit den Hitlerjungen auch mal eine Übung auf dem Turm macht. Und Buben, hat er gesagt, die kriechen doch überall rein. Wenn die an die brüchige Mauer in der Nische geraten, könnte denen was passieren. Warum machst du die Nische nicht mit einer Tür zu, hat er geraten; den Löschsand dort kannst du dir schenken, denn wenn der Turm brennt, richtest du an der Stelle mit Löschsand nichts mehr aus. Das hat der Stadtpolizist Steidle gesagt und hat sich dann an die Mütze getippt.
    Jascha trinkt langsam. Er ist ja ständig allein, sodass er den Einarmigen am liebsten festhalten würde, wenn der das Essen bringt. Der redet jetzt mehr als früher, denn er hat sonst nichts zu tun, er kann nur warten, bis Jascha fertig ist. Sie sitzen auf der Plattform und haben die Tür zum Turm offen

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