Das Wolkenzimmer
schweres Buch. Auf seinem Lederrücken schimmern goldene Linien. Sie sind wie die Linien eines Gesichts, das man lange nicht gesehen hat, aber sofort wiedererkennt.
Der Einarmige, der müde sitzen geblieben ist, dreht den Kopf. »Das? Ein Buch. Der Steidle hat es heraufgeschleppt. Wenn mir mal die Arbeit ausgeht, hat er gesagt. Er hat es gefunden.«
Jascha setzt sich neben das Buch. Seine Hand zittert, als er darüber streicht, jetzt hebt er es auf und legt es sich auf die Knie.
»Kannst du überhaupt lesen?«, fragt der Einarmige über die Schulter. »Bei euch haben sie doch schon lange die Schule abgeschafft!«
Jascha antwortet nicht. Es ist sein Lexikon. Es ist sein Lexikon!
Dass es hier ist, grenzt an ein Wunder. Wo doch alles andere weg und verloren ist. Sein Bündel hat er auf der Flucht fallen lassen. Das Lexikon stießen sie ihm aus der Hand, als er es mitnehmen wollte, sodass es im Flur des Judenhauses liegen blieb.
Das Lexikon ist zäher als alle Menschen; zäher als sein Vater, dem es gehört hat, zäher als Hermann, der es Jascha überließ, zäher als Onkel Kühn, der ihm verbot, es in sein Bündel zu packen. Und zäher als die SS-Männer, die es auf den Boden warfen.
Das Lexikon ist zu Jascha zurückgekehrt.
41
Veronika macht die Augen auf. Ein Stern hat mit seinem Licht durchs Dach gefunden - wie wunderbar hell es ist! Sie setzt sich auf. Nein, das ist gar kein Stern und auch keine richtige Helligkeit, das ist die gelbliche, künstliche und auf einen Bereich beschränkte Helligkeit einer Glühbirne. Die Lampe an der Wand über der Tür ist an, und Veronika weiß jetzt, dass sie eingeschlafen war. Licht zu haben, ist großartig. Aber auch irgendwie bedrohlich …
Ihre Zähne schlagen aufeinander - denn um auf den Schalter drücken zu können, musste einer die Tür öffnen. Die Tür ist näher, als sie gedacht hat. Sie schiebt sich schlotternd an der Wand hoch. Sie sieht nun über die Tür hinaus bis zur Dachschräge, und es ist keiner auf der Plattform, nur sie selbst. Die Tür scheint unverändert geschlossen. Der Steg, auf dem sie fast den ganzen Tag zugebracht hat, ist verlassen, jedenfalls so weit der Lichtschein reicht. Der Lichtschein …
Da stellt ihr Kopf auf einmal eine Verbindung her: die Lampe - und der Geburtstag des Amerikaners. Wenn du mich brauchst, hat er gesagt, drückst du hier. Es ist ein Licht. Zehn Minuten später bin ich da.
Hier hat er seinen Geburtstag verbracht, hier! Und sie hätte ihn mit dem Licht erreichen können, wie er sie jetzt erreicht hat. Veronika schließt für einen Moment die Augen und atmet eine Menge Angst aus. Doch schon mit dem nächsten Einatmen ist der Augenblick der Erleichterung vorbei. Warum hat er Licht gemacht? Um sie zu finden? Wann hat er den Schalter in der Türmerstube betätigt, soeben oder schon vor zehn Minuten?
Sie steht flach an die Wand gedrückt, die Arme ausgebreitet, und hat noch kaum in ihrer Aufmerksamkeit nachgelassen, doch jetzt spannt sie wieder alle Muskeln, winkelt die Arme an, hält die Hände bereit, die Augen auf die Tür gerichtet, falls die sich öffnet. Sie wird gleichzeitig den Rückzug antreten, vorsichtig die Wand entlang bis zum zweiten Steg, der weit hinter ihr liegt. Dort wird sie sich außerhalb des Lampenscheins und in relativer Sicherheit befinden, und wenn es darauf ankommt, sollten ihre Beine es eigentlich mit den Beinen eines alten Mannes aufnehmen können.
Veronika behält die Tür im Auge und geht rückwärts, bis der Schatten sie umfängt. Jetzt wendet sie sich zum Steg, der wird ihr erlauben, noch weiter ins Dunkel zu tauchen und nach der Breite nun auch die Länge der Halle zwischen sich und die Tür zu bringen.
Sie setzt schon zum Lauf an - und erstarrt, als hätte sich der Boden geöffnet.
Auf dem Steg, ans Schutzgeländer gelehnt, steht der Amerikaner.
Sie greift sich an den Hals, der Schock ist so groß, dass sie nicht einmal quiekt.
»Wovor hast du Angst?«, sagt er ruhig. »Du wolltest dich vom Turm stürzen, du selbst bist dein Feind, sonst niemand.«
Sie starren einander an.
Nach einem langen Augenblick fallen Veronika die Arme herab. Sie rutscht kraftlos an der Wand herunter, aufrecht braucht sie viel zu viel Platz. Dann hockt sie da, und als der Amerikaner den Blick noch immer nicht abwendet, schlägt sie aufschluchzend die Hände vors Gesicht. Das Weinen schüttelt sie vom Kopf bis zu den Zehen.
Nach einer Weile ist die Hand des Amerikaners an ihrer Schulter. Veronika gibt
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