Das Wolkenzimmer
nach. Sie lässt sich willenlos an seine Brust betten und weint weiter, aber es sind schon Tränen der Erleichterung. Sie legt den Kopf auf sein Bein und überlässt sich dankbar und völlig erschöpft dem Schlaf.
42
Jascha hat den Notfall geübt und übt ihn noch - nämlich jedes Mal dann, wenn dem Einarmigen einfällt, dass ein Notfall ja ganz plötzlich kommt. Ab ins Dach, sagt er dann. Und Jascha, der nicht weiß, ob der Notfall echt oder erfunden ist, rennt hinunter zur Nische. Das Vorhängeschloss ist offen, darauf achten sie beide, er reißt die Lattentür auf, schließt sie von innen, greift mit seiner kleinen Hand hindurch und schiebt den gut geölten Riegel in den Steinschlitz, dreht den Schlüssel im Vorhängeschloss um, zieht ihn ab und steckt ihn in eine Mauerritze, wo nur er oder der Einarmige ihn finden können.
Dann windet er sich durch die eingespannten Bretter, schlüpft durch die Säcke, die vor dem Loch hängen, ertastet rechts außerhalb vom Loch sein Seil - und hängt auch schon daran. Jetzt kann er noch mit den Füßen die Säcke ordnen, falls das nötig ist, und die Beine dann um den Firstbalken schlingen und sich zum Stützbalken hinüberhangeln.
Das Seil bleibt natürlich am Firstbalken. Aber um es zu sehen, müsste einer schon den Kopf durchs Loch stecken. Und von unten ist ein graues, altes Seil hoch oben im Dach zwischen den Spinnweben im Gebälk kaum auszumachen. So wenig wie das Loch, das ja auch ganz oben ist. Eindringendes Regenwasser hat die alte Ziegelmauer angenagt, besonders in der Spitze des Giebels, die Mauer sieht nicht mehr sehr schön aus, und nur der Einarmige und Jascha wissen, dass es trotzdem mühsam war, ein paar Steine in ihr zu lockern und auszubrechen.
Im Dach ist es noch immer kalt, der Frühling lässt dieses Jahr auf sich warten. Der Einarmige hat Jascha ein paar alte Säcke gegeben, in die er sich einwickeln kann, wenn er im Dach schlafen muss. Hinterher klettert er den Dachstuhl hinauf und versteckt sie im Spalt über dem Firstbalken, sodass man sie nicht einmal mit guten Stablampen von unten sehen könnte.
Sollte einmal keine Zeit mehr sein, die Säcke zu verstecken, weil Jascha blitzschnell verschwinden muss, dann liegen halt in Gottes Namen irgendwelche Säcke im Dach. Wie soll ein Mensch wissen, wofür man die dort gebraucht hat - der Einarmige kann nur hoffen, dass man ihm seine Dummheit dann auch glauben wird, sagt er zu Jascha. Denn falls nicht, wird im Dach jeder Krümel untersucht, und dann können sie beide den Löffel abgeben.
Jascha fragt nicht, welchen Löffel; es gibt Redensarten, die versteht man auch so.
»Wo ist eigentlich dein Stern? Du hast doch einen auf dem Mantel gehabt, wir müssen ihn verschwinden lassen«, sagt der Einarmige ein paar Tage später, während er den Strohsack, auf dem sie geschlafen haben, in die Stube zurückschleppt.
»Der ist schon verschwunden«, sagt Jascha. »In einer Mauerritze.«
»Wo? Zeig!«
»Nicht hier. Weiter unten.« Jascha geht voran und ein paar Stockwerke hinunter. Er bleibt stehen und zeigt über den Turmschacht hinweg zur Wand hinüber.
Der Einarmige kann beim besten Willen kein Fitzelchen Gelb entdecken. »Dann finden andere Augen auch nichts«, sagt er. »Sowieso kommt da keiner rüber. Du aber, musst du denn jeden Balken ausprobieren? Einmal vertust du dich und dann liegst du unten und alle Mühe war umsonst.«
»Ich vertu mich nicht«, sagt Jascha.
Er geht manchmal auch - aber natürlich nie während des Läutens - auf einem Balken zur Glocke hinüber, die sie im Turm gelassen haben, und berührt sie vorsichtig. Das dicke Glockenseil reicht zwei Stockwerke hinab bis zu einer eingezogenen Bretterdecke, von wo aus der Einarmige zu genau festgelegten Zeiten am Seil zieht. Wenn die Glocke ertönt, kommt es Jascha vor, als riefe sie nach ihren Schwestern, die man abgeholt und eingeschmolzen hat. Sie allein ist übrig geblieben. Mit dem festlichen Klang des vollen Geläutes ist es vorbei und Jascha legt der Glocke manchmal seine Hände auf das schwere, kühle Metall. Denn sie beide haben nur den Einarmigen, sonst niemanden mehr.
Abends, wenn der Turm zugesperrt ist, darf Jascha aus dem Dach, und es gibt etwas zu essen. Waschen kann er sich dann auch. Er taucht eine Blechschüssel in den Wassertank auf der Türmeretage und füllt sie mit klarem, eiskaltem Wasser. Es ist Regenwasser vom Turmdach, das über ein Rohr in der Fensterecke in den steinernen Tank gelangt und durch ein
Weitere Kostenlose Bücher