Das Wolkenzimmer
Überlaufrohr bei zu viel Regen wieder den Weg nach draußen nimmt. Wenn man den ganzen Tag allein im Dach ist, denkt man an alle schönen Sachen im Turm und manchmal sogar ans Waschen und freut sich darauf. Oder man stellt sich vor, wie man eine Taubenfeder auf dem Wasser schwimmen lässt.
Im Dach kann Jascha kaum etwas anderes tun als turnen. Im Turm gibt es mehr Möglichkeiten. Eine davon bietet die Spindel, durch die man eine Stange steckt, dann kann man sich daran im Kreis drehen.
»Das heißt Karussell«, sagt der Einarmige, der es Jascha erlaubt. »Weißt du denn gar nichts? Die haben euch wohl nie rausgelassen...«
Er kratzt sich den Armstumpf, der ihn manchmal juckt, und sagt mit verzerrtem Gesicht: »In Wirklichkeit ist das eine rechte Sauerei gewesen, an das hab ich gar nie gedacht, dass es bei euch Kinder gegeben hat und dass die nichts gedurft haben. Jetzt sind ja sowieso alle weg. Bei einem richtigen Karussell drehen sich natürlich Pferdchen und Wagen.«
»Ich weiß«, sagt Jascha jetzt. »Das steht im Lexikon. Auf dem Marktplatz hab ich auch schon öfter ein Karussell gesehen.«
»Aber fahren haben sie dich nicht lassen«, sagt der Einarmige.
»Fahren nicht«, sagt Jascha.
Da macht der Mann auf einmal etwas Schreckliches. Er steht vor der Spindel und schlägt seinen Kopf dagegen, zweimal, dreimal. Dann schlingt er seinen einen Arm um das Holz und stöhnt durch die Zähne: »Meine Buben sind Karussell gefahren... Aber du lebst!«
Er presst die Augen zu, Speichel schäumt in seinen Mundwinkeln, sein Stöhnen wird zum Weinen.
Jascha weicht zurück, er hat große Angst. Er schleicht rückwärts zur Treppe, dann dreht er sich um und läuft hinab.
»Ja, verschwinde!«, hört er den Mann schreien. »Hau ab, sonst werf ich dich aus dem Fenster!«
Jascha bleibt nicht mehr stehen, bis er an der Nische ist. Er reißt die Lattentür auf, zieht sie von innen zu und fährt mit der Hand hinaus zum Riegel und stößt ihn in den Schlitz. Das Vorhängeschloss kümmert ihn nicht. Er windet sich durch die Bretter, verliert ein Büschel Haare, schiebt sich durch die Säcke, greift nach seinem Seil und flieht ins Dach. Ob die Säcke richtig fallen, ist ihm egal.
43
Mein Bein ist eingeschlafen«, sagt der Amerikaner, als Veronika die Augen aufschlägt. »Wenn du die Güte hättest …«
Sie richtet sich benommen auf. Das gelbliche Licht der Lampe wird vom Tageslicht geschluckt, das durch feine Ritzen im Dach und durch ein Fenster im Osten hereindringt. Der Amerikaner ächzt und zieht sein Bein an, er massiert es kräftig.
Nichts erinnert mehr an seine beschützende Geste - ob sie sich die nur eingebildet hat? Veronika fährt sich durch die Haare und beugt sich dann vor. Sie schüttelt den Kopf wie ein nasser Hund, als ließen sich alle unangenehmen Erinnerungen wie fein glitzernde Tröpfchen versprühen und wären weg.
Weil das aber nicht funktioniert, schaut sie den Amerikaner schließlich von der Seite an.
»Mr James …«, beginnt sie und senkt dann beklommen die Augen.
Er massiert sich gerade das andere Bein. Als er damit fertig ist, sagt er: »Du bist mir keine Erklärung schuldig. Wir beide sind uns nichts schuldig. Du hast dich mit deinem Eindringen in meinen Turm außerhalb jeder Konvention gestellt; dort hast du mich getroffen, denn dort lebe ich, die Gesellschaft bedeutet mir nichts. Die Gesellschaft hat mich vor langer Zeit ausgestoßen, und wenn ich auch scheinbar ihren Regeln folge, so bleibe ich doch draußen. Die Gesellschaft als Ganzes ist mir gleichgültig. Höchstens ein Mensch kann mich erreichen.«
»Habe ich Sie erreicht?«, flüstert Veronika.
Als er nicht antwortet, schaut sie ihn an. Um seinen Mund ist ein kleines Lächeln und es kommt ihr spöttisch vor.
»Sie halten mich für eine dumme Gans«, sagt sie.
»Kein Tier ist dumm«, sagt der Amerikaner.
»Wenn Sie die Tiere lieber mögen als die Menschen, warum haben Sie dann keines?«
»Du hast recht, ich könnte eigentlich eine Katze halten.« Er lacht.
»Sie weichen mir aus«, sagt Veronika niedergeschlagen. »Sie nehmen mich nicht ernst.«
Der Amerikaner steht nun auf. »Glaubst du, ich wäre hier, glaubst du, ich hätte dich ins Dach gebracht, wenn ich dich nicht ernst nehmen würde?« Er wendet sich zum Gehen. »Komm, du musst etwas essen.« Kurz vor der Tür hält er inne. »Gib Acht, dass du nicht ausrutschst, hier hat jemand Duschgel vergossen.« Er steigt darüber hinweg.
Veronika folgt ihm stumm nach oben. Sie
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