Das Wolkenzimmer
die kurze Zeit in seine warme Kuhle. Er passt aber gut auf, dass er dort nicht einschläft. Einmal träumt er von der Katze der alten Frau Hirsch, die in der hellen Sonne an der Hintertür liegt. Er streicht ihr über das Fell und sie schnurrt und streckt sich. Alles ist so wunderbar warm und da schaut der Tag zu den Turmfenstern herein. Jascha liegt in der Kuhle wie in einem Nest, an einem warmen Bauch und unter einem schweren Arm.
Die Hand des Einarmigen kann er sich aus der Nähe anschauen. Es ist eine Hand, die alles macht, was eine Hand allein überhaupt machen kann, und so sieht sie auch aus: Ihre Haut ist grob und rissig, die Nägel sind dick und haben schwarze Ränder. Ob die Hand am Glockenseil zieht, einen Eimer trägt, das Brot schneidet, das zwischen die Knie geklemmt ist, ob sie Holz in den Ofen wirft, mit dem Schürhaken stochert, einen Schlüssel hält, eine Tür aufmacht oder den Bügelverschluss der Flasche schnappen lässt - die Hand hat dabei ihre ganz eigene Art, und Jascha erinnert sich genau, wie sie es macht. Aber sie so lange in Ruhe anschauen, das hat er noch nie gekonnt. Er muss auf einmal an einen Vogel denken, der aus dem Nest gefallen ist, und dass es eine solche Hand sein sollte, die ihn aufhebt.
Jascha tut einen tiefen Schnaufer und macht die Augen wieder zu.
45
Wie konnten Sie wissen, dass Mattis heute doch nicht kommt?«, fragt Veronika am Ende eines weiteren Tages, der mit Hoffnung begonnen hat.
Der Amerikaner räumt seinen Schreibtisch ab. »Ich habe es nicht gewusst, ich bin kein Hellseher. Ich gebe dir jetzt Geld und du beschaffst uns etwas Gutes zu essen, willst du das?«
Veronika nickt. Das ist immerhin eine Perspektive für einen Abend. Was danach sein wird - sie weiß es nicht. Eine ganz geringe Chance besteht, dass Mattis noch das Wochenende in Italien mitnehmen wollte und dass er erst morgen nach Hause fährt und sie dabei aufliest. Aufliest, ein seltsames Wort. Aber genau das ist es, was er noch tun kann, sie in letzter Minute auflesen und zu Hause abliefern. Ein weiter reichendes Interesse an ihr - etwa der Wunsch, eine gemeinsame Zeit zu verbringen - kann nicht mehr da sein.
Vor ungefähr einer halben Stunde ist ihr nun endlich auch klar geworden, warum sie nach dem Streit nicht sofort heimgefahren ist: Sie hat es genau wissen wollen, sie hat ihn auf die Probe gestellt, und Mattis hat die Probe - bestanden.
»Mögen Sie Pizza oder lieber Nudeln? Also, ich bin verrückt nach Nudeln!«, sagt sie in verzweifelter Munterkeit.
»Dann musst du inzwischen ja ganz hübsch auf Entzug sein. Kannst mir auch Nudeln mitbringen. So, wie du sie nimmst.«
»Oh, Sie vertrauen mir aber.«
»Wenn wir einander nicht vertrauen würden, wo wären wir dann«, sagt er, ohne zu lächeln. Er schließt den Schreibtisch ab. »Ich gehe eine Etage mit und säubere die Toiletten. Alle sonstigen Arbeiten sparen wir uns heute.«
»Essen Sie eigentlich nie in der Stadt, Mr James?«
Er antwortet, als er mit dem Putzzeug aus der Küche zurückkommt. »Ich bleibe im Turm, und wie du siehst, respektiert man meine Lebensweise.«
»Aber Sie haben Ihren Geburtstag mit einem Kind gefeiert. Wie passt das zusammen?« Sie legt den Kopf schräg und sieht ihn an. »Ich glaube Ihnen nicht«, sagt sie plötzlich. »Sie haben mich auf den Arm genommen!«
»Auf den Arm nicht, ich habe dich auf mein Bein gelegt und dein Kopf war reichlich schwer.«
Veronika errötet. Unwirsch sagt sie: »Jetzt lenken Sie ab.«
Der Amerikaner lacht. »Nun geh schon«, sagt er.
Als sie eine Dreiviertelstunde später mit dem heißen Essenspaket zurückkommt, hat sich der Vorraum verwandelt. Verblüfft bleibt sie auf der letzten Stufe stehen. Zwischen den Balken hängen Girlanden, die in der Abendsonne leuchten. Die Fenster sind weit geöffnet. Mitten im Raum steht der Tisch aus der Türmerstube. Ein weißes Tuch liegt darauf.
Der Amerikaner bringt Gläser und eine Flasche Wein aus der Küche, unter dem Arm hat er Teller und Besteck.
»Jetzt bist du ein wenig zu früh gekommen«, sagt er. »Aber dann hilfst du mir eben noch. Ich habe dummerweise nur einen Stuhl … Du siehst, Veronika, auf Gesellschaft bin ich nicht eingerichtet.«
Sie stößt die Glöckchentür auf. »Wo haben Sie die Girlanden her? Und das Tischtuch?«
»Und die Idee«, ergänzt er und arrangiert das Geschirr und die Gläser.
»Die Idee war zuerst da, sie ist beinahe acht Jahre alt und hat auf ihre Gelegenheit gewartet. Das andere ist Beiwerk, so
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