Das Wolkenzimmer
dunkelsten Stelle im Dach. Dorthin ist er geklettert, als er den Schlüssel in der Tür hörte. Eine Nacht ist vergangen, seit er ins Dach geflohen ist, ein Tag und noch eine Nacht.
In der ersten Nacht war Alarm. Wenn Jascha da schon gewusst hätte, wie schrecklich er hungern würde, hätte er sich in den Turm geschlichen und nach Essen gesucht. Denn bestimmt war der Einarmige während des Alarms auf dem Kranz wie früher. Aber der Hunger kam erst richtig am Tag und in der darauf folgenden Nacht und da war kein Alarm. Jascha lag wach und weinte. Aber er wollte nun lieber sterben als den Einarmigen um Essen anbetteln.
Der sucht mit den Augen das Deckengewölbe unter seinen Füßen ab. Als er dort nicht fündig wird - weit sieht er sowieso nicht -, schaut er in die Balken hinauf.
»Melde dich! Verflucht, ich tu dir doch nichts. Oder bist du schon verhungert?«
»Noch nicht«, flüstert Jascha.
Der Einarmige seufzt tief. »Gott sei Dank. Komm runter. Ich hab dir ein Brot mitgebracht. Und Wasser. Sobald ich die Morgenglocke geläutet habe, hole ich die Flasche ab. Am Abend lasse ich dich raus, wenn nichts ist.«
Damit balanciert er zurück und gewinnt die Plattform unter der Mauer.
»Beeile dich!«, ruft er noch. Dann geht er hinaus und schließt die Tür ab.
Jascha findet das Brot und die Flasche auf der Plattform. Als der Einarmige zurückkommt, um die Flasche abzuholen, ist er schon wieder im Gebälk.
Nach einem langen Tag darf er abends in den Turm. Der Einarmige ist inzwischen zu Hause gewesen, und seine Frau hat ihm allerhand in den Rucksack gepackt: Brot und Schmalz, gekochte Kartoffeln, einen Steinkrug mit Sauerkraut, ein Stück geräuchertes Schweinefleisch, ein paar Möhren und die letzten schrumpeligen Äpfel vom Herbst. Und als der Mann das alles ausgepackt hat, holt er von unten noch eine Handvoll Haselnüsse heraus.
»Da«, sagt er und schiebt sie über den Tisch zu Jascha, der sich ganz in die Ecke zurückgezogen hat. »Du wirst ja zuerst wieder eine Weile damit spielen. Von den gelben Rüben musst du den Sand abreiben. Beinahe hätte meine Frau sie gekocht. Sie versteht gar nicht, dass ich die auf einmal wieder beißen kann … Diesmal hat sie doch zwei Sätze geredet.«
Jascha, der große Augen und einen Mundvoll Wasser hat, weiß nicht, was er sagen soll. Er schaut dem Mann stumm zu. Um die Spindel hat er beim Heraufkommen einen Bogen gemacht, die rührt er lieber nicht mehr an. Und dem Einarmigen will er auch möglichst aus dem Weg gehen, nur nicht ausgerechnet beim Essen.
Jascha ist daran gewöhnt, dass Erwachsene Kummer haben. Aber jeder Kummer ist anders, und wie soll ein Kind, mit dem man nicht darüber spricht, den Kummer verstehen?
Hermann hat mit ihm geredet, bei Hermann hat er sich ausgekannt. Aber die Erwachsenen sind in ihren Sorgen unberechenbar, und Jascha hat ja gar nicht gewusst, dass Arier überhaupt welche haben.
»Ich kann im Dach schlafen«, murmelt er, als der Einarmige ihm später zuwinkt, den Strohsack mit anzufassen.
Die Antwort fällt unerwartet heftig aus. »Ja, wenn dir mein Strohsack nicht mehr gut genug ist! Kruzitürken, ich kann für dich keinen eigenen auf den Turm bringen, das geht einfach nicht!«
Jascha sieht zu Boden. »Nein. Aber ich hab ja die Säcke …«
Der Einarmige steht mit hängendem Arm und finsterer Miene da.
Dann gibt er sich einen Ruck und nimmt den Strohsack am Kopfende. »Los, pack an.«
Jascha gehorcht.
Ein Strohsack ist etwas Vertracktes, man kann nie an seinem Rand liegen bleiben. So viel Mühe man sich auch gibt, man wacht immer in der Kuhle auf. Einen Strohsack hat Jascha gar nicht gekannt. Im Judenhaus gab es Matratzen, auf die die Frauen gut aufpassten, nie durften die Kinder an einem Rosshaar zupfen, das vielleicht irgendwo herauskam; der Stoff wetzte sich ab, und die Matratzen sahen schon sehr mitgenommen aus, weil man die Betten Tag und Nacht brauchte und weil zu viele Kinder in einem Bett lagen. Für Jascha allerdings fand sich kein Platz mehr im Bett, er musste auf dem Teppich schlafen, später auf dem nackten Boden, als Onkel Kühn den Teppich mitgenommen und dafür Kartoffeln nach Hause gebracht hatte.
Jascha liegt auf der Seite, am Rand des Strohsacks. Er schiebt auch noch den Arm unter den Strohsack: Wenn er sich auf diese Weise festklemmt, kann er vielleicht doch am Rand liegen bleiben.
Der Einarmige steht ein paarmal auf, um vom Turm zu rufen und die Antwort der Wache zu hören. Sobald er weg ist, rollt Jascha für
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