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Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irma Krauss
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hält Abstand, und er sieht sich auch nicht um, er ist taktvoll genug, ihre Scham zu respektieren. Auf der Toilettenetage bleibt sie zurück, und als sie zehn Minuten später in der Türmerstube eintrifft, ist er mit seiner Wettermeldung beschäftigt.
    Sie kümmert sich, momentan erleichtert, ums Frühstück. Ihre Hand auf dem Brotlaib spürt die Glätte und Rauheit der Rinde, und der Duft des Brotes, das sie in Scheiben schneidet, ist unvergleichlich. Sie seufzt leise vor Glück. Wie das aussieht, wenn die Hand ein Marmeladenglas aufschraubt, wie der Deckel mit hellem, trockenen Scheppern auf dem Tisch landet, wie sich ein Tellerrand zwischen drei Fingern anfühlt, glatt und kühl, und wie der Teller bereits voller Verheißung eines Brotes ist, das man mit Butter und Marmelade bestreicht.
    Sie kocht Tee und trägt die Kanne mit zeremonieller Feierlichkeit in die Stube, liebkost mit ihren Händen den Henkel und den Ausgießer und spürt das Gewicht der Kanne und ihre zunehmende Wärme. Darin hat sie sich getäuscht, es besteht keine Gefahr, dass sie gierig essen könnte, denn wenn man mit allen Sinnen genießt, hastet man nicht.
    Der Amerikaner setzt sich an den Tisch und Veronika gießt ihm Tee ein. Sie wagt nicht, ihn anzusehen. Erst als er sich mit der Hand über Kinn und Wangen fährt und ein schabendes Geräusch erzeugt, riskiert sie einen Blick: Er ist unrasiert, hat auch die schütteren grauen Haare nicht gekämmt und seine Augen sehen müde aus.
    »Du hast recht«, sagt er auf ihren Blick hin. »Ich sollte mich vor dem Frühstück noch frisch machen.«
    »Nein«, sagt sie ertappt und erschrocken.
    Er betrachtet sie und lächelt plötzlich und schüttelt den Kopf. »Wenn man dich so ansieht, hat man wieder mal den Beweis: Der Jugend schadet eine kleine Hungerzeit nicht.«
    »Haben Sie etwa auch gehungert?«
    »Natürlich. Aus Solidarität. Die Brötchen sind nun allerdings hart geworden. Wenn du nur ein bisschen kochen könntest - ich glaube, man könnte einen Semmelschmarren daraus machen. Ich weiß nur nicht, wie.«
    »Ist das etwas Österreichisches?« Sie geht auf seinen Ton ein.
    »Vielleicht. Oder etwas Süddeutsches.«
    »Aber sicher nichts Amerikanisches?«
    »Eher nicht. Hör mal, Nick …«
    »Bitte nicht, nicht mehr den Namen.«
    »Oh …!«, sagt er interessiert. »Wie soll ich dich denn dann nennen?«
    »Ich weiß nicht. Veronika.«
    »Wie nennen dich deine Eltern?«
    »Vera.« Sie verzieht das Gesicht.
    »Magst du deine Eltern nicht?«
    »Doch«, sagt sie nach einem Moment des Zögerns. »Ich mag nur nicht, wenn sie mich Vera nennen. Sie tun das manchmal, seit ich mit Mattis … seit sie Mattis kennen. Als wäre ich dreißig und schon verheiratet.« Veronika schluckt. Ihre Eltern haben einen Narren an Mattis gefressen, sie vertrauen ihm, sie denken, Vera wiederholt schön die Abiturprüfungen, und Mattis kommt nach einem Jahr aus Amerika zurück, und jetzt besiegeln Vera und Mattis das in drei wundervollen, ungestörten Urlaubswochen … Nichts wissen ihre Eltern.
    Der Amerikaner nickt ihr zu. »Gut, dann also Veronika. - Ich habe gestern, als ich deine Sachen aufräumte, den Zettel mit deinen Fragen gefunden, dein Schreibblock war aufgeschlagen. Nein, ich bin nie verurteilt worden, nicht im herkömmlichen Sinne, ich war in keinem Gefängnis.«
    Sie rührt unbehaglich die Schultern. »Ich habe ja gar kein Recht …«
    »Das ist in Ordnung. - Wann bist du geboren, Veronika? Neunzehnhundertvierundachtzig? Hast du je von der Wannseekonferenz gehört?«
    »Kommt mir bekannt vor …«
    »Dann denk doch vielleicht einmal nach, was du noch weißt. Du wirst Zeit dazu haben, während du darauf wartest, dass dein Freund kommt.«
    Veronika zuckt zusammen, aber er scheint es nicht zu bemerken.
    »Du hast einmal ein Partyspiel vorgeschlagen. Heute Abend gibt es eine Party. Aber ohne Spielchen. Einverstanden?«
    »Wenn ich aber am Abend nicht mehr da bin?«, sagt sie.
    »Dann natürlich nicht. So. Schließt du bitte den Turm auf? Ich will mich noch rasieren, bevor der Run beginnt.«
    »Mr James …?«
    »Später. Und lass doch den Mister weg.«
     

44
    Jascha?«, ruft der Einarmige mit unterdrückter Stimme. »Bist du da?«
    Er balanciert ein Stück auf einem Bodenbalken entlang, macht einen hastigen Stolperschritt und hält sich fluchend am nächsten Stützpfosten fest.
    »Komm schon raus, ich bin doch kein Akrobat!«
    Jascha kann ihn sowohl sehen als auch hören. Er liegt auf einem Querbalken unter der

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