Das Wolkenzimmer
auf eine wärmende Weise vertraut. Die Zeit, die doch sonst immer eilt, scheint sich in aller Ruhe neben ihr auf der Bank niederzulassen, sie ordnet ihr fließendes Gewand und blickt gelassen umher.
Veronika kitzelt das Lachen. Sie gibt dem Wein die Schuld. Aber der ist es nicht allein, eine solche Leichtigkeit bewerkstelligt kein Alkohol. Nein, es ist - es kann nichts anderes sein: Dass sie hier einmal Glück empfinden könnte, hervorgerufen durch die Anerkennung eines alten Mannes, ein Glück ohne Mattis, wer hätte das gedacht?
Der Amerikaner zündet die Kerze auf dem Tisch an.
Veronika dreht sich zu ihm herum. »Darf ich noch bleiben, bis ich weiß, was ich mache?«, fragt sie.
»Solange du nicht die Alternative in Betracht ziehst, die dich auf den Turm geführt hat«, sagt er.
Die Kerze flackert im Luftzug. Veronika steht auf, um die Fenster zu schließen. Als sie wieder auf ihrem Platz sitzt, sind die fernen Geräusche der Außenwelt vollends verschwunden.
Sie räuspert sich. »Ich würde Sie bitten, meinen Strich aus dem Küchenschrank zu entfernen.«
»Dann bliebe mir ja gar keine Erinnerung«, antwortet er leichthin. »Außerdem entferne ich keine Zeichen.«
»Ach so? Zwei der Striche sind übrigens mit Kreuzchen markiert …«
Früher hätte sie darauf keine Antwort bekommen und auch keine erwartet. Doch heute scheint alles anders zu sein. Der Amerikaner sagt: »Ja, das konnte leider während meiner Amtszeit geschehen. Einmal war es eine junge Frau. Sie sprang, ohne dass es jemand bemerkt hätte. Ich erinnerte mich später an ihren abwesenden Blick, nach Wochen, als man sie gefunden hatte, da war sie aber nicht mehr ansehnlich.«
»Nach Wochen?«
»Nun, sie war hinter einer Absperrung gelandet, hinter einem Bauzaun. Die Ausbesserungsarbeiten an der Kirche ruhten zu der Zeit, und als man sie wieder aufnahm, entdeckte man die Leiche. Ihre Familie hatte die Frau als vermisst gemeldet, aber niemand ist auf den Gedanken gekommen, sie könnte vom Turm gesprungen sein.«
Veronika hat die Beine langsam von der Bank genommen. »Und das zweite Zeichen?«
»Ein netter junger Mann, so alt wie du. Damals hatte ich noch nicht genügend Erfahrung, die Kandidaten einzuschätzen. Ich kannte ihn, er hat den Turm oft besucht, ich beobachtete ihn: seine Fahrigkeit, sein zerrissenes, übertriebenes Lächeln. Er machte mir ein wenig Sorge, und ich versuchte, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Aber ich scheiterte an seiner Schüchternheit.«
»Und dann?« Veronika merkt, dass sie die Kante der Bank umklammert. Jede Weinseligkeit ist verschwunden.
»Dann kam der Tag, an dem es dem Jungen gut ging. Er strahlte vor Freude, so schien es mir, und ich dachte, nun haben sich die Knoten seines Lebens gelöst. Vielleicht hat er die Anerkennung seines Vaters gefunden, um die er sich zuvor umsonst bemüht hat, vielleicht ist ihm in der Schule oder im Beruf etwas geglückt, vielleicht ist es ein Mädchen... Ja, Veronika, ich sah nicht, was es war.«
Der Amerikaner stützt den Kopf in die Hände und schließt die Augen vor der Kerzenflamme. »Er kam an einem klaren Herbstmorgen in der Turnhose und im Hemd herauf. Er fand zum ersten Mal ein paar leichte Worte und schien sich über die Sonne zu freuen. Er hielt das Ticket wie einen Schatz in der Hand, als er federnd die Stufen zum Kranz hinaufstieg, ich sehe noch seine kräftigen nackten Beine. Der nächste Besucher öffnete die Glöckchentür und ich vergaß ihn. Nein, das stimmt nicht.«
Der Amerikaner streicht sich mit den Händen übers Gesicht. Seine Augen bleiben geschlossen. »Ich hatte seine Freude wahrgenommen und fühlte, wie sie mich wärmte, während ich diesem nächsten Besucher ein Ticket verkaufte. Dann hörten wir beide einen entsetzlichen Knall. Was war das, fragte der Besucher, aber ich konnte es ihm nicht sagen. Ich wusste nur, der Krach oder Knall hatte mit dem Turm zu tun, etwa als wäre ein Balken herausgebrochen und hinuntergedonnert. Da klingelte das Telefon. Ein Nachbar, der zufällig am Fenster gestanden hatte, sagte, da ist einer gesprungen. Ich rannte auf den Kranz. Der war leer und unten sammelten sich schon die Menschen. Das Weitere kannst du dir vorstellen.«
»Nein, kann ich nicht«, sagt Veronika mühsam.
»Nicht?« Der Amerikaner macht die Augen auf. »Du kannst es dir nicht vorstellen? Das Vordach über dem Eingang war zerschmettert, denn dort war der Junge zuerst aufgekommen, bevor er aufs Pflaster knallte. Er traf in Teilen unten an, ein
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