Das Wolkenzimmer
etwas hat man im Schrank. Was machen wir jetzt wegen des Stuhls?« Er kratzt sich ratlos den Nacken.
Veronika stellt ihr Paket ab und betrachtet den Aufwand, den er betreibt. »Glauben Sie wirklich, ich sitze Ihnen steif auf einem Stuhl gegenüber, glauben Sie das, Mr James?«
»Ja, du hast recht, gewöhnlich lümmelst du am Tisch oder hast die Beine heraufgezogen - du brauchst eine Bank. Und auf den Mister kannst du offenbar doch nicht verzichten, hm?«
Sie weiß keine Antwort darauf.
»Nun gut. Hilf mir, eine Bank aus der Nische zu holen.«
»Aber warum«, schnauft sie während des Tragens, »warum bleiben wir nicht da, wo wir immer sitzen?«
»Wenn du das nicht siehst …«
Veronika sieht es, kaum dass sie auf der Bank Platz genommen hat. Der Amerikaner gießt roten Wein in die Gläser und sie schaut sich um. Sie sitzen in der Mitte des Turms, weg von den Fenstern, durch die der Himmel hereinguckt. Es ist nicht möglich, nach unten zu schauen, und so scheint man hier dem Himmel näher als der Erde. Der Raum gehört tagsüber den Besuchern, die ihn durchqueren und von Fenster zu Fenster laufen, aber jetzt ist er zwei Menschen allein reserviert. Seine Intimität ist neu und unerwartet. Ein weiches rötliches Licht erfüllt ihn, das in dieser Kraft von kurzer Dauer sein wird. Auf dem Tisch steht schon eine Kerze für später bereit.
Der Amerikaner hebt sein Glas. »Auf diese Stunde!«
»Ja«, murmelt Veronika, »auf diese Stunde.« Sie nimmt einen Schluck und sieht auf. »Aber was feiern wir eigentlich?«
Er stellt sein Glas bedachtsam auf den Tisch. »Was immer du willst«, sagt er.
»Ausgerechnet heute«, sagt sie ruhig, »habe ich gar nichts zu feiern.«
»Damit sind wir schon zwei.« Ein langer, nachdenklicher Blick. Dann nimmt er sein Besteck zur Hand, mustert es eine Weile und widmet sich schließlich den Nudeln auf seinem Teller.
Veronika kostet die Sahnesoße. »Mmmh!«, sagt sie etwas übertrieben, weil alles so feierlich ist.
»Du hast gut gewählt«, bestätigt er. »Wenn man einfach lebt wie ich …«
»Sie leben karg«, sagt Veronika.
»Das ist relativ. Aber was für ein schönes Wort. Kennst du noch mehr solcher Wörter?«
»Bei Bedarf, ja«, sagt sie mit vollem Mund. Sie schluckt. »Hängt davon ab, wer mir gegenübersitzt.«
»Natürlich.« Er lächelt ihr zu.
Der Raum ist eine stille, hohe Insel, an deren Fuß kleine Wellen lecken: die fernen Geräusche der Außenwelt. Veronika überlässt sich der Unwirklichkeit der Situation. Ihre Trauer wird zu einer verschwommenen, sanften Traurigkeit, sie verliert das Bittere, als würde eine zukünftige, hundert Jahre alte Veronika zurückblicken auf diese Szene und freundlich lächeln. Das ist schon beinahe unheimlich, sodass man es keinem Menschen erzählen könnte. »Mr James?«
»Hm?«
»Die Aufgabe, die Sie mir gestellt haben …«
Reden ist, als würde man einen festen Steg über unsichere Buckelgewölbe bauen. »Es gibt hier ja leider keinen Computer und kein Internet. Ich wollte deswegen die Wannseekonferenz in Ihrem Lexikon nachschlagen. Aber da steht nichts drin! Warum werfen Sie das Ding nicht weg, das ist ja schon fast achtzig Jahre alt!«
»Ja, es ist noch älter als ich. Willst du mich auch wegwerfen?«
»Ich meine ja nur. Wozu ist ein Lexikon schließlich da?«
»Ja, wozu ist ein Lexikon da, das habe ich mich auch schon gefragt.« Er hebt die Augenbrauen. »Man kann es als Schemel benützen oder einen Blumentopf darauf stellen. Man kann die Abbildungen anschauen oder die Einträge zählen und sich über den Bienenfleiß der Menschheit wundern. Man kann die Kürzel entziffern oder das Buch irgendwo blind aufschlagen und lesen, was der Zufall ausgewählt hat.«
»Na ja …«, meint Veronika.
Ihre Bestecke klicken wieder auf den Tellern. Bis sich der Amerikaner zurücklehnt und seine Lippen mit der Serviette abtupft.
»Weißt du, wann diese Konferenz war und worum es ging?«, fragt er im Plauderton. »Das ist nicht gerade ein Partythema. Dennoch - weißt du es?«
Veronika zuckt mit den Achseln. »Von Wissen kann keine Rede sein. Ich hab nur ein komisches, ungutes Gefühl, und bestimmt war es eine schrecklich wichtige Konferenz, das Wort sagt mir etwas. Ich tippe auf Drittes Reich und … Krieg. Oder?«
Er sieht sie aufmerksam an.
»Das Wort sagt dir etwas. Du tippst auf Drittes Reich und Krieg. So, so.« Um seinen Mund ist ein schmerzlicher Zug.
»Tut mir leid, wenn ich Sie enttäuscht habe«, sagt sie steif.
Er
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