Das Wolkenzimmer
sieht sie noch immer schweigend an. Plötzlich winkt er ab.
»Du hast mich nicht enttäuscht. Es ist nicht deine Schuld. Immerhin löst der Name der Konferenz bei dir ein Unbehagen aus. Wie würdest du sie, deinem Unbehagen nach, einstufen?«
»Als ganz schlimm«, sagt sie spontan.
Er nickt. »Veronika, nimm das Schlimmstmögliche an und nimm an, dass Drittes Reich und Krieg richtig sind. Und jetzt betrachte bitte das Lexikon. Das Lexikon ist älter. Es weiß noch nichts von dieser furchtbaren Konferenz. Hat seine Zeit nicht den täuschenden Schimmer einer Unschuld«, sagt er und klingt erstaunlich unpathetisch, »einer Unschuld, die dem Licht in diesem Raum gleicht? Wie könnte ich wohl das Beweisstück einer besseren Zeit wegwerfen?« Er beschreibt einen Halbkreis und sagt, indem er sie ansieht: »Der Raum wird sich verdunkeln und dann ist um uns nur noch die Finsternis.«
Veronika senkt unter seinem gequälten Blick die Augen. Seine Hand ist jetzt um die Serviette geballt. Sie bemerkt das schmale Handgelenk und die schlanken Finger. Der nebensächliche Gedanke kommt ihr, dass es sich unmöglich um die Hand eines Bauarbeiters handeln kann. Vielleicht eines Historikers, vielleicht hat er die Geschichte Europas studiert …
»Das Jahr deiner Geburt, Veronika«, sagt er ganz unvermittelt, »lag einmal unvorstellbar weit in der Zukunft. Ein Autor wählte es für seinen großen Zukunftsroman aus, den er sogar danach benannte: Neunzehnhundertvierundachtzig.«
»Ich weiß«, sagt sie schnell. »Das war George Orwell. Wir hatten den Roman als Schullektüre.« Ein Bauarbeiter, ha!
»Als Schullektüre …«, wiederholt der Amerikaner nachdenklich. »Wundert es dich nicht manchmal«, sagt er, »dass du die Zukunft überholt hast? Die Zukunft eines anderen natürlich, nicht deine eigene. Die Zeit ist eine merkwürdige Sache - vielleicht existiert sie gar nicht.«
Er breitet nach einem Blick in ihr skeptisches Gesicht die Serviette auf dem Schoß aus und nimmt sein Besteck wieder auf. Dann isst er in Ruhe und mit Sorgfalt seinen Teller leer.
Nie lässt er Essen auf seinem Teller zurück. Angesichts des Nudelberges, der inzwischen auch noch erkaltet sein muss, ist das erstaunlich; Veronika selbst hat längst aufgegeben und ihr Besteck weggelegt.
Sie füllt jetzt die Gläser neu und dreht ihr Glas in der Hand. Sie ist nicht daran gewöhnt, Wein zu trinken, und garantiert würde jeder vernünftige Mensch ihr raten, sich in ihrer derzeitigen Situation nicht auch noch mit Alkohol zu benebeln. Aber es gibt keinen vernünftigen Menschen im Turm, es gibt nur sie und den Amerikaner und seine Theorie von der Zeitlosigkeit, an die sie aber nicht glaubt. Wenn die Zeit nicht existiert, was denn dann?
Sie schüttelt den Kopf. Wenn man sie von zu Hause aus sehen könnte … Den Gedanken findet sie plötzlich sehr witzig.
»Du lächelst?«, sagt der Amerikaner.
»Ich musste mir vorstellen … Ach, egal. Mr James, Sie wollten doch von mir wissen, warum ich nach dem Streit mit Mattis nicht augenblicklich nach Hause gefahren bin?«
»Ich wollte, dass du dir darüber klar wirst, ich wusste es bereits.«
»Ja?«, sagt sie überrascht.
»Ja. Du warst aus dem Nest gefallen und konntest dir nicht helfen, weil deine Flügelchen noch nichts taugten.« Er legt den Kopf schief. »Inzwischen sind sie aber gewachsen, du kannst heimfliegen.«
»Falsch«, sagt Veronika. »Ich bin kein Jungvogel, oder was immer Sie denken. Ich bin volljährig. Und taugliche Flügel hatte ich schon, ich habe sie nur nicht benützt. Nein, es ist etwas anderes. Ich stelle Mattis auf die Probe. Noch immer, bis morgen.«
»Wird er sie bestehen?«
»Er hat sie schon bestanden«, sagt sie, um eine feste Stimme bemüht. »Falls er noch auftaucht, wird das nichts ändern. Er ist er und ich bin ich. Ich habe mir etwas vorgemacht.«
Der Amerikaner sieht sie schweigend an. Dann hebt er sein Glas und prostet ihr stumm zu.
Veronika dreht sich verlegen weg und zieht, um ihrer Bewegung einen Grund zu geben, endlich die Beine auf die Bank. Der Raum hat ein friedliches graues Dämmerlicht aus seinen Ecken hervorgeholt und über die Balken, den Boden, den Tisch und sie beide gebreitet. Der Himmel bleibt vor den Fenstern und schafft es gerade noch, hellere Vierecke abzuzeichnen.
In die Stille hinein schlägt jetzt die Turmuhr.
Veronika legt das Kinn auf die Knie. Auf einmal ist ihr alles so vertraut, der Turm, die Stille, das Licht, das Zusammensein mit dem Amerikaner,
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