Das Wolkenzimmer
Mir wär’s lieber, der Steidle hätte das Buch nicht heraufgebracht...«
Er erhebt sich und steckt sein Sacktuch in die Tasche.
Jascha hält das Lexikon fest und beobachtet ihn ängstlich.
»Steh einmal auf«, sagt der Einarmige.
Jascha tut es zögernd.
»Du bist gewachsen. Du brauchst für den Winter etwas Warmes zum Anziehen.« Der Einarmige redet schroff und fährt ohne Pause fort, als wollte er vergessen, was gerade war. »Von unseren Buben ist nichts mehr da, meine Frau hat alles für die Soldaten in Russland hergeben müssen. Was zu klein war, hat sie aufgetrennt, ich weiß es von der Großmutter. Ich kann dir nur Sachen von mir geben, Bub. Mit dem Barfußlaufen ist es jetzt auch bald vorbei, dann musst du dir Fußlappen rumwickeln.«
Ein paar Wochen später verbrennt der Einarmige an einem kalten Herbstmorgen Jaschas altes Zeug im Ofen. Jascha muss währenddessen an der Treppe horchen, ob auch niemand kommt.
Das warme Winterzeug, das er jetzt trägt und das viel zu groß ist, hat der Einarmige stückweise am eigenen Leib von zu Hause mitgebracht. Er hat nichts riskieren dürfen, denn in der NS-Ortsgruppe gibt es zwei oder drei Schnüffler, die ziehen die braune Uniform an und gucken den Leuten in die Fenster, in die Keller, in die Töpfe und Taschen und sogar in die Futtertröge, wenn sie Tiere haben. Bei der Frau des Einarmigen war auch einer, der hat gesehen, dass sie den Hühnern guten Weizen gab, und hat sie angezeigt. Jetzt muss sie das bisschen Getreide auch noch abliefern, wo sie doch sowieso schon fast alles hat hergeben müssen, und bestraft wird sie auch.
»Wenn kein Wunder geschieht«, hat der Einarmige gesagt, »müssen wir den Gürtel eng schnallen. Es ist sowieso nicht leicht, genug Essen für zwei auf den Turm zu bringen. Ich darf meiner Frau nichts von dir sagen, sie kommt nicht darüber hinweg, dass unsere Buben gefallen sind.«
Darüber hinwegkommen, das kann der Einarmige selbst ja auch nicht. Darüber hinwegkommen, das ist vielleicht wie ein großer Schritt über eine Grenze, dann ist man drüben und kann nicht mehr zurück. Und weil man hinten keine Augen hat, fängt man an zu vergessen. Jascha hat jetzt manchmal selber Angst, dass er vergisst, was Hermann ihm aufgetragen hat. Das Schlimmste ist, dass er nicht mehr weiß, wie Hermann ausgesehen hat.
Er schaut an sich hinab: In den Männersachen und mit den Fußlappen würde Hermann auch ihn nicht mehr wiedererkennen.
51
Du hast wirklich den ganzen Tag nichts gegessen, nicht ein Krümelchen?«, fragt der Amerikaner.
»Nicht ein Krümelchen. Ich bin federleicht. Aber jetzt freue ich mich auf unser Picknick.«
Alles, was sie dafür brauchen, haben sie in die gelbe Plastikwanne gepackt, die sie nun miteinander in einen Raum hinauftragen, den kein Besucher betreten kann, weil er immer abgeschlossen ist. Sie haben das Ende der Stiege erreicht und Veronika riskiert einen Blick durch die offene Pforte auf den Kranz. Die Besucher werden praktisch dort hinausgeschleust. Denn zur anderen Seite der Stiege ist eine mannshohe Holzwand, die das ganze Stockwerk abriegelt.
Während Veronika die Augen an einen Spalt in der Holzwand drückt und etwas zu erkennen versucht, sperrt der Amerikaner das Vorhängeschloss auf, öffnet die Tür und trägt die Plastikwanne hinein.
Sie verlässt ihr unzureichendes Guckloch, läuft ihm nach und macht die Tür hinter sich zu, als könnte noch jemand hereinwollen. Dann bleibt sie überrascht stehen. Durch acht hohe gotische Spitzbogenfenster fällt das Licht in einen großen Raum, in dem eine Treppe bis unter das Dach reicht. Die Mitte des Daches öffnet sich für den kleinen Tempel, in dem die Stundenglocke und die Viertelstundenglocke der Uhr hängen. Veronika dreht sich um sich selbst, in diesem atemberaubenden Raum, der so groß ist wie die Türmerstube und der Vorraum zusammen, umgeben vom Himmel hinter den Fenstern und der Spitze des Turms darüber.
»Wahnsinn«, sagt sie überwältigt.
Der Amerikaner breitet eine Wolldecke auf dem Boden aus.
»Gefällt es dir?«
»Aber wie! Hier könnte ich einziehen!«
»Im Winter würdest du dir das gut überlegen.« Er wirft ihr ein Kissen zu, dann räumt er die Wanne aus.
Veronika setzt sich und hilft mit. »Wozu brauchen wir den Wasserkanister?«
»Zum Händewaschen. Hier, Schüssel und Handtuch. Wenn du klebrige exotische Früchte einkaufst...« Er legt Teller und Servietten aus, stellt Gläser dazu, platziert in der Mitte den Korb mit
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