Das Wolkenzimmer
dem Obst, das Veronika im Spülbecken gewaschen hat, und gruppiert Käsesorten, Butter und Brot darum herum. Dann widmet er dem Arrangement einen langen Moment der Aufmerksamkeit.
In Gedanken versunken, sagt er: »Eigentlich wollte ich hier mit dem Jungen Geburtstag feiern. Das war meine Absicht gewesen. Aber so nah bei den Leuten - nein.«
»Den Jungen haben Sie erfunden«, sagt Veronika.
Er schüttelt den gesenkten Kopf länger, als es für eine Verneinung nötig wäre. »Unglaublich«, sagt er, und sein Ton hat sich verändert. »Das möchte ich dem Jungen zeigen.«
»Er lebt gar nicht mehr, in Wirklichkeit«, versucht Veronika es erneut.
Der Amerikaner geht nicht darauf ein. Er lässt seinen Blick die Wände entlangwandern, von Fenster zu Fenster, und sieht dann ins Gebälk hinauf. »Er war sehr gern in der luftigen Höhe. Dabei kommt man hier oben nur noch in den Himmel, wenn man fortwill. Ja. Und im Winter, da war es eisig. Aber im Sommer!«
Veronika beobachtet ihn. »Der Junge, das sind Sie gewesen, Mr James.«
»Wie?« Der Amerikaner sieht sie endlich an. »Der Junge war der Junge«, erklärt er und findet zu seinem gewohnten Ton zurück. »Nun iss, du hast Hunger.«
Veronika greift nach dem Brot. »Wenn Sie es nicht waren, wer soll es dann gewesen sein?«
»Veronika«, seufzt der Amerikaner, »ich bin 1994 hier eingezogen. Der Junge 1942.«
»Aber woher wissen Sie von ihm? Falls Sie ihn nicht erfunden haben …« Woran ich nun wieder glaube, liegt ihr auf der Zunge. Einen lebenden Menschen lassen Sie ja nicht an sich ran, Sie sind in Wirklichkeit völlig allein und denken sich in Ihrer Einsamkeit Gesellschaft aus, die Steinhauer, einen Jungen und wer weiß, wen sonst noch.
»Es war im Frühling nach der Wannseekonferenz, dass der Junge in den Turm zog«, sagt der Amerikaner und straft ihre Gedanken Lügen. Er schneidet bedächtig ein Stück Käse ab und legt es auf seinen Teller. »Nicht dass der Junge etwas von dieser Konferenz gewusst hätte! Wenige wussten von ihr, sie war streng geheim. Es handelte sich um eine Besprechung mit anschließendem Frühstück, wie man heute weiß. Auch das Protokoll kann man einsehen, man kennt die Namen der NS-Größen, die um den Tisch saßen, und Größen waren es. Adolf Eichmann übrigens hat Protokoll geführt.«
Veronika senkt den Kopf über den Teller. Sie wird sich hüten, irgendeine Bemerkung zu machen - denn was immer er ihr mitteilen will: Sein beiläufiger Ton kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um etwas Ungeheuerliches handelt.
»Die Konferenz war im Januar 1942 in einer Villa am Wannsee, Reinhard Heydrich leitete sie. Sein Judenreferent Adolf Eichmann hatte die Einladungen verschickt. Fünfzehn Herren saßen um den Tisch und diskutierten über ein Problem, das dringend der Lösung bedurfte. Veronika?«
Sie sieht erschrocken auf.
Er lächelt mit schmalen Lippen. »Es sollte möglich sein, während eines Picknicks über eine Besprechung mit anschließendem Frühstück zu plaudern, was denkst du? Ich rede mir selbst mit diesen Worten zu, denn nun habe ich schon angefangen. Das Problem, über das beraten wurde, waren die Millionen von Juden, die noch in Europa lebten. Adolf Hitler wollte sie entsorgt wissen. Europa sollte entjudet werden, diskret, schnell, kostengünstig. Kein kleines Problem! Die Frage nach dem Warum taucht gar nicht auf, es ging nur um das Wie. Veronika, könnten wir uns für ein paar Minuten die Beine vertreten, kommst du mit hinaus zum Kranz?«
Das ist kein Moment, um Nein zu sagen. Veronika geht mit. Außer dem einen Mal, als sie mit den Augen am Boden um den Turm schlich, war sie nicht mehr auf dem Kranz. Es ist ein Abend wie der, an dem sie ankam, nur ist heute der Turm bereits abgeschlossen.
Der Amerikaner geht zur Brüstung. Veronika bleibt mit dem Rücken an der Wand. Sie sieht ihn halb von hinten wie damals. Ihr ist mulmig, doch sie hat nicht das Gefühl, jeden Moment in die Knie gehen und sich im Stein verbeißen zu müssen. Das Band des Balkons ist schmal und die Balustrade noch immer aus durchbrochenem Rankenwerk, durch das man in die Tiefe sieht. Veronika überwindet die kleine Schwäche, sie holt Luft und tritt neben den Amerikaner. Nach kurzem Zögern legt sie die Hände auf den warmen Stein und schaut hinaus wie er. Die untergehende Sonne verbirgt sich hinter einem Dunstschleier, der ferne Rand der Ebene ist ein unbestimmtes dunkleres Band, das mit dem diesigen Himmel verschwimmt.
Der Amerikaner
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