Das Wolkenzimmer
Er darf aber den Bleistift nehmen und seine Kreuzchen ins Lexikon malen. Er muss nur aufpassen, dass ihm der Bleistift nie runterfällt, sonst ist die Mine in Stücken, und einen neuen Bleistift kriegt man schwer.
»Steht Smolensk auch in deinem Buch?«, fragt der Einarmige, der die Morgenglocke geläutet hat.
Jascha schaut auf und rückt zur Seite, um ihn vorbeizulassen. Doch der Mann ist stehen geblieben.
»Ob Smolensk auch drinsteht«, knurrt er, weil Jascha nicht gleich nachsieht.
»Ist das eine Stadt?« Jascha fängt zu blättern an.
Der Einarmige lässt sich schwer auf der Treppe nieder, auf Jaschas Stufe. »Das ist eine Stadt«, sagt er. »In Russland. Aber die steht da vielleicht nicht drin …«
Jascha findet Smolensk. Er setzt triumphierend seinen Fingernagel darunter und schiebt dem Einarmigen das Lexikon hinüber.
Der tut einen wehen Schnaufer. Er schaut das Wort lange an. Auf einmal kann er es nicht mehr sehen, er macht die Augen zu und seine Lidränder schimmern feucht.
»Meine Buben«, sagt er, und Jascha versteht ihn kaum, so leise kommt es heraus, »sind da gefallen. Im Juli ist es ein Jahr gewesen. Zwei Söhne in einer Schlacht, das kann man doch nicht glauben.« Er zieht sein Sacktuch heraus, presst es an die Augen und stützt den Kopf in die Hand. »Und es hat kein Ende, das Sterben geht weiter«, murmelt er. »Jetzt stehen wir vor Stalingrad, und weißt du, wie groß Russland ist?«
Jascha weiß es nicht. »Nein«, flüstert er.
»Und weißt du, wo unsere Truppen sonst noch stehen? Ich habe die Front auf einer Karte abgesteckt, bis vor einem Jahr hab ich das gemacht«, sagt der Mann dumpf unter seiner Hand hervor. »Meine Front war bei Smolensk zu Ende...«
Jascha, der ihn beklommen von der Seite ansieht, muss auf einmal an die Sommernacht denken, in der es den Einarmigen vor unterdrücktem Weinen geschüttelt hat. Da wird es wohl ein Jahr gewesen sein, in der Nacht.
Wenn einer weint, ist er ganz allein, Jascha weiß das. Nur solange Hermann noch da war, war es anders. Hermann hat ihn in den Arm genommen, zuerst nicht, aber dann schon; zuerst hat Hermann immer gewollt, dass Jascha das Weinen bleiben lässt, und oft hat Jascha es auch geschafft und hat Angst und Tränen hinuntergeschluckt. Aber manchmal, wenn es gar nicht ging, hat Hermann dann doch den Arm um ihn gelegt.
Kann man aber den Arm um einen erwachsenen Mann legen?
Nein, Jascha glaubt nicht, dass das geht. Er kann höchstens ganz vorsichtig eine Handbreit näher hinrücken. Und mucksmäuschenstill sein wie an dem Tag, an dem er das ungenutzte Radio in der Türmerstube erwähnt hat, woraufhin der Einarmige gleich knurrte, dass er kein Radio mehr braucht, dass ihn keine Heeresberichte und Sondermeldungen mehr etwas angehen, dass sich das Oberkommando der Wehrmacht seine Erfolge an den Hut stecken kann. Er hat mit der Ferse an den Apparat unter seiner Sitzbank geschlagen. »Unser siegreiches Heer«, hat er gesagt und gelacht, und es war ein böses Lachen.
»Aber... es geht doch noch?«, hat Jascha sich zu fragen getraut, denn wenn das Radio noch funktionierte...! Im Judenhaus stand nämlich einmal ein Radio. Bevor man es abgeben musste.
Der Einarmige hat gefaucht, dass er die Anodenbatterie schon vor einem Jahr herausgenommen und weggeschmissen hat. Dass sie das im Rathaus aber nicht wissen. Sonst würde man ihm vielleicht einen Volksempfänger heraufbringen, damit er hört, ob Bomberverbände im Anflug sind, und das braucht es doch gar nicht, die Alarmsirenen reichen ihm schon.
Auf einmal hat er aber das Radio unter der Bank hervorgezogen und nachgesehen, ob ihm der Tritt geschadet hat. Er hat gemurmelt, dass er die Batterie nicht hätte wegwerfen sollen, sein Jüngster hat sich damals so gefreut, als er sie bekommen hat, er ist ein Radiobastler gewesen, und was für einer.
Ein Radiobastler? Jascha hätte brennend gern mehr darüber erfahren. Das Lexikon, das sonst doch alles weiß, behauptet, Radio wäre eine Abkürzung für Technik mit elektromagnetischen Wellen, und einen Volksempfänger kennt es auch nicht. Doch wenn ein Mann sich abwendet, fragt man nichts mehr.
Der Einarmige nimmt jetzt das Sacktuch vom Gesicht und schnäuzt sich hinein und Jascha zieht das Lexikon vorsichtig wieder zu sich herüber.
»Dass du mir sonst nichts hineinschreibst«, sagt der Einarmige rau, »und auch keine Kreuzchen machst, von denen ich nichts weiß. Der Stadtsekretär, dem trau ich nicht, der könnte ein Spitzel des SD sein.
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