Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irma Krauss
Vom Netzwerk:
nicht? Wo wollte man da mit einer Kurbel ansetzen?«
    Veronika hat die Plastiktüte abgestellt und die Arme auf das Geländer gelegt. Die Drahtseile kommen von oben, aus dem Uhrenhaus, und reichen in den Schacht hinab. Sie kann ihnen jetzt nachsehen, ohne dass ihr übel wird. Schade, dass die Gewichte nicht mehr daran hängen.
    »Ein Universum von komplizierten Empfindungen«, bestätigt sie. Aber in Wirklichkeit ist heute alles plötzlich einfach geworden, ihr persönliches kleines Universum ist eine durchschimmernde Kugel. Das kann sich wieder ändern, gewiss. Aber im Augenblick ist es eben so. Seit der Amerikaner sie verstohlen auf dem Platz gesucht hat.
    »Du lächelst?«, fragt er.
    »Och, mir geht’s gut.« Sie hat es geschafft, seinen Panzer zu knacken, irgendwo hat der jetzt einen kleinen Sprung.
    »Alle Tage ging es dir nicht gut«, wendet er ein.
    »Aber es ging mir zunehmend besser.«
    »Das ist der Effekt der Klausur.«
    Veronika fasst sich ein Herz. »Kann ich noch bleiben, wenigstens ein bisschen?«
    Er schaut sie an. »Das fragst du nun schon zum zweiten Mal. Was ist los? Anfangs hast du es nicht für nötig befunden, überhaupt zu fragen!«
    »Ich weiß«, sagt sie, »es tut mir auch leid...«
    »Genehmigt.« Er bückt sich und nimmt die Tasche auf. »Was hast du denn Schweres darin?«
    »Das ist nur die Flasche. Ich habe Rotwein eingekauft, die Farbe sieht im Turm so schön aus.«
    Er nickt. »Dann weiß ich etwas. Wir gehen heute zum Platz des Jungen. Nein, die Tasche trage ich.«
    Veronika, die schon die Hand ausgestreckt hat, gibt nach. »Das Wechselgeld liegt drin«, sagt sie. »Zwanzig Euro waren zu viel.«
    Der Amerikaner zuckt mit den Schultern. »Ach ja, die neue Währung.«
    Er bleibt auf der nächsten Stiege noch einmal stehen. »Früher gab es die Reichsmark. Dann die D-Mark...«
    »Die Euromünzen sind schöner«, wirft sie ein.
    »Darauf kommt es nicht an. Sondern auf die historische Bedeutung. Währungsreformen sind Meilensteine. Man wird unser Jahr für immer mit der Einführung des Euro verknüpfen. Man wird die D-Mark vergessen, wie man die Reichsmark vergessen hat. Der Junge kannte die Reichsmark. Obwohl er ironischerweise nie eine besessen hat.«
    »Wenn es der ist, mit dem Sie Geburtstag gefeiert haben - der ist ja erst zehn!«
    »Richtig.« Der Amerikaner wechselt die Plastiktüte in die andere Hand und geht weiter. »Im Jahr 1942.«
    »Ach …? Ohne Witz?«
    »Seit wann mache ich Witze?«, sagt er.
     

50
    In einer Nacht in diesem Sommer ist Jascha von unterdrücktem Weinen aufgewacht und es ist der Einarmige gewesen. Jascha ist vor Schreck steif geworden wie die tote Maus, die ein Falke im Turm verloren hat. Er hat sich kein bisschen bewegt und kaum mehr geatmet, bis es vorüber war. Am Morgen hat er den Mann ängstlich beobachtet, aber es war ihm nichts anzumerken. Außer dass er kein Wort geredet hat.
    Das fällt ihm jetzt plötzlich wieder ein. Er sitzt mit seinem Lexikon auf der Treppe vor der Fluchtnische. Er muss nun jede Minute nützen, in der es hell genug zum Lesen ist, denn die Tage werden kürzer, und ins Dach darf er das Lexikon nicht mitnehmen.
    Nachts ist Alarm gewesen und sie haben zum ersten Mal vom Turm aus einen Feuerschein gesehen.
    »Das muss Nürnberg sein«, hat der Einarmige mit tonloser Stimme gesagt.
    Jascha hat nun Nürnberg gesucht und ein Kreuzchen ins Lexikon gemalt. Viele Städte haben schon Kreuzchen, Köln und Wilhelmshaven, Essen und Duisburg, Frankfurt und Berlin, Düsseldorf und Mainz, Danzig und Flensburg, Hamburg und Osnabrück. Auch Stuttgart, dort sind vier Nächte hintereinander Bomben gefallen. Jascha hat noch nie eine große Stadt gesehen, er kann nur hoffen, dass der Feind nicht alles kaputt macht. Denn vielleicht stimmt doch, was Onkel  Kühn gesagt hat, nämlich dass die Nazis den Krieg auch verlieren können. Dann wird alles anders, und die Juden dürfen wieder etwas, das Ausland wird dafür sorgen, hat er gesagt, so viele von uns sind schon im Ausland, wichtige Leute, sie werden uns nicht vergessen. Das hat Onkel Kühn gesagt und Jascha hat dabei immer an Hermann denken müssen, Hermann wird kommen und ihn nach Amerika holen. Aber vorher, das wünscht sich Jascha, soll er mit ihm nach Augsburg fahren und auch in andere Städte, die in der Zeitung stehen.
    Er würde die Namen der Städte gern aus der Zeitung ausschneiden, die der Einarmige mitbringt, doch das kommt nicht infrage, Zeitungspapier braucht man für wichtigere Sachen.

Weitere Kostenlose Bücher