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Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irma Krauss
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ihr vorletzter gemeinsamer Abend sein. Morgen der letzte. Und am Mittwoch, wenn Mattis dann hoch über dem Atlantik ist, hat sie eigentlich keinen Grund mehr, hierzubleiben. Obwohl sie noch mit allen Sinnen anwesend ist, vielleicht mehr anwesend als an allen Tagen zuvor, muss sie sich jetzt umsehen, zwanghaft, wie um rechtzeitig damit zu beginnen, die Eindrücke festzuhalten. Die Schatten der Toten gehören dazu, die wird sie nie mehr los.
    »Was bedeutet dein Blick, Veronika?«, fragt der Amerikaner, der sich die Hände in der Schüssel gewaschen hat und nun nach dem Handtuch greift.
    »Oh... keine Ahnung …«
    »Du nimmst Abschied.«
    »Wie können Sie das wissen?«, fragt sie erschrocken.
    Er schenkt ihr einen Blick von unten, der besagt: So etwas sieht man. Eigentlich hätte er hinausgehen und vom Turm rufen müssen - er scheint die Uhr nicht gehört zu haben. Sie beobachtet, wie er jetzt, offenbar einer Eingebung folgend, die Schüssel, das Handtuch, Teller und Gläser, Besteck und Servietten von der Decke räumt, wie er den Käse und das Brot einsammelt und in den Obstkorb legt, und wie er sich dann, als alles weg ist, auf seiner Seite der Decke ausstreckt. Er schiebt sich das Sitzkissen in den Nacken und lässt die Augen langsam von einem Fenster zum nächsten wandern.
    »Ich kann dir diese Perspektive empfehlen«, sagt er und hebt lächelnd den Kopf. »Probiere einmal. Weich liegt man nicht, aber trotzdem wie auf Wolken.«
    Veronika macht es ihm nach, sie legt sich auf den Rücken, schiebt das Kissen in den Nacken und richtet ihren Blick nach oben, in Erwartung besonderer Enthüllungen. Doch bemerkenswerter als das nahe Gebälk und der ferne Himmel ist das, was ihr inneres Auge wahrnimmt, sofort und ohne Vorwarnung: das schmale Stück freier Decke zwischen ihnen. Und ebenfalls ohne Vorwarnung: das Bedauern, dass die kleine Distanz unüberbrückbar ist. Denn anders als in der Nacht im Kirchendach, in der die Distanz aufgehoben war, gibt es nun keinen Grund für solche Nähe.
    Auf Wolken liegen … Sie schaut angestrengt und verwirrt durch die Balken zur Kuppel hinauf, aus deren offener Mitte die Säulen der Glockenkapelle ragen. Darüber ist als Abschluss noch das kleine Dach der Kapelle und dann weiter nichts mehr. Die Kuppel, die gotischen Fenster ringsum, mehr gibt es nicht. Höchstens noch den Boden, den man aber nicht sieht, sondern nur unter sich spürt. Dieses Luftzimmer ist der erhobene Kopf des Turms, der sich die Wolken um die  Nase wehen lässt, während seine Füße massiv und schwer in der Erde stecken.
    Nicht dass man das aussprechen könnte. So wenig wie das unerklärliche … Bedauern.
    »Ich fühle mich nicht auf Wolken«, sagt sie mit belegter Stimme. »Sondern in einem verwunschenen Turmzimmer. Ganz, ganz oben, im höchsten Raum des Turms. Und darunter sind die Treppen morsch geworden, sie sind zusammengebrochen, es gibt sie nicht mehr.«
    Sie dreht den Kopf zur Seite - und begegnet den Augen des Amerikaners, die sie ansehen, aufmerksam, prüfend, zurückhaltend. So nah war ihr sein Gesicht noch nie, sie sieht jede Linie und jede Pore und vor allem die Augen und hält seinen Blick mit ihrem Blick fest.
    Die Ungehörigkeit dessen, was sie da tut, wird ihr bewusst. Vom Wunsch, den Abstand noch weiter zu verringern, bekommt sie Herzklopfen. Es ist nichts Falsches daran, nichts Hässliches oder Schmutziges oder Berechnendes, es ist einfach ein ehrlicher Wunsch. Das Ungehörige daran ist, dass sie ihn bereits ausdehnt, in eine Grauzone hinein, wo ihre Vorstellung sich verliert und unklar wird. Denn in der Grauzone wird ihr Wunsch auf den eines anderen Menschen treffen, und wie der aussieht, ist nicht einmal zu ahnen.
    Die Spannung dehnt die Sekunden. Das Blinzeln, ihres und seines, ist eine Art Zeitmaß, ein Taktschlag, der dem unverwandten Blick Lebendigkeit und Bedeutung gibt.
    Gerade als es unerträglich wird, dreht der Amerikaner das Gesicht weg und schaut wieder in die Balken hinauf, als wäre nichts gewesen.
    Sie beobachtet ihn und atmet verstohlen ein und noch heimlicher aus, es ist ja auch nichts gewesen. Ihr ist nur ein bisschen schwindlig, sie möchte die Augen schließen und sich an seine Schulter schmiegen, schön müsste das sein.
    Veronika rollt den Kopf langsam zurück, so langsam, wie  man sich bewegt, wenn man keinen auf die Bewegung aufmerksam machen will.
    Hinter den Fenstern ist es grauer geworden.
    »Wenn draußen Wolken vorbeiziehen, weißt du, was dann passiert?«, fragt

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