Das Wolkenzimmer
gekommen sind.
Veronika findet es plötzlich absurd, dass jemand auf einen Turm steigt, sich oben umsieht, ihn wieder verlässt und dann denkt, er kenne diesen Turm.
Die beiden werden sich jetzt gleich ein wenig wundern, wenn sie sie im Turm verschwinden sehen …
Sie steht auf und geht mit der Plastiktüte, in der ihre Einkäufe sind, auf den Amerikaner zu. Das Radlerpaar ist vergessen, als sie die Erleichterung auf seinem Gesicht bemerkt, für einen kurzen Augenblick nur, ehe er in gut geübtem Gleichmut die Brauen hochzieht und ihr Begrüßungslächeln erwidert.
»Ich habe schon befürchtet, du lässt mich verhungern«, sagt er mit Blick auf die Tüte.
Sie grinst und schüttelt den Kopf. Kann er nicht zugeben, dass er sich freut, sie wiederzusehen? Muss er so tun, als gälte seine Erleichterung dem Essen?
»Was hast du denn den ganzen Tag gemacht?«, fragt er im Plauderton.
»Eigentlich nichts. Doch, die Sachen eingekauft.« Sie schwingt die Tüte. »Hoffentlich habe ich tausend Anrufe verpasst.«
»Nicht einen. Womit hast du deine Leute denn eingeschüchtert?«
»Na ja, ich hab ihnen gesagt, es ist ein Diensttelefon...«
Der Amerikaner lächelt ein bisschen und schüttelt den Kopf. Über die Tafel hinweg, die er hineinträgt, weist er zur Turmwand. »Die markante Inschrift dort, hat die noch Gültigkeit?«
»Nein«, sagt Veronika nach einer Nachdenksekunde. »Schon eher Gleichgültigkeit.«
Schönes Wortspiel. Ob es nun stimmt oder nicht.
Der Amerikaner sagt nichts dazu. Er lehnt die Tafel an die Wand und sperrt hinter ihr die Tür zu.
»Gibst du mir deine schwere Tüte?«
»Nein.« Sie grinst.
»Wie du meinst.« Er zieht die ausgestreckte Hand wieder zurück und geht die Treppe hinauf.
Beinahe hundert Stufen in der kühlen Röhre - wenn man sich da einmal hinaufgewunden hat, ist man bereits weg von allem, was draußen war und was wichtig war. An einem Tag wie diesem hat es nichts gegeben, das auch nur annähernd so wichtig gewesen wäre wie das Zurückkommen in den Turm. Ein Tag, den man aus dem Kalender streichen sollte.
Veronika hat ihr Möglichstes getan, ihn einfach vergehen zu lassen, damit er überstanden ist. Sie ist zuerst ziellos durch die Gassen gestreunt und dann auf den Wehrgang der Stadtmauer gestiegen und hat die Stadt langsam umrundet. Sie hat einen unsichtbaren Faden gefühlt, der sie um den Turm führte. Unter ihren Füßen klang und schwang der Holzboden des Wehrgangs. Sie ging einen großen Kreis, der Turm war immer da, als unverrückbare Mitte - er stand auf dem anderen Ende des Fadens.
Veronika hat einmal versucht, sich davon zu befreien, sie hat die Stadtmauer hinter sich gelassen und ist zum Freibad hinausgelaufen, und da hat der Turm sie zurückgerufen, denn er besaß ihren Bikini. Sie erwog, den Bikini zu holen, doch der Turm hielt auch die Erinnerung an das Telefongespräch mit ihren Eltern bereit, und von dem wollte sie sich ja entfernen; ihre Beine waren klüger als ihr Kopf und hatten bereits gehandelt, ehe sie den Befehl dazu erhielten.
Vor Hunger ist ihr den ganzen Tag ein wenig schwindlig gewesen. Das war angenehm; die Leere im Magen machte sie leicht, fast substanzlos, der Schwindel stieg ihr zu Kopf und enthob sie der Verantwortung für die Entrüstung ihrer Eltern und für Mattis’ dummes, wunderschön gebräuntes Gesicht.
Der Amerikaner bleibt stehen. Sie haben die Röhre hinter sich und sind im Hauptturm angekommen. Das Abendlicht lässt Staubpartikelchen tanzen. Er sieht sich nach ihr um.
»Hast du dir schon einmal Gedanken über die alten Drahtseile gemacht, die in den Schacht hinunterhängen?«
»Mit den Glocken haben sie nichts zu tun?«, vermutet Veronika.
»Nein, die Glockenseile sind längst verschwunden. Die Glocken werden elektrisch geläutet.« Er betrachtet die Seile.
»Als die Welt noch jünger war, konntest du überall durchschaubare Technik beobachten. An den Drahtseilen hingen einmal die Gewichte der Turmuhr. Es waren Rohre, die man mit Sand gefüllt hatte, sie trieben die Uhr an. Es war alles so übersichtlich: Gewichte, die man mit einer Kurbel hinaufzog und die wieder nach unten sanken, ein stetes Auf und Ab.«
»Hübsch«, sagt Veronika.
Er nickt. »Etwas mehr Sand oder eine Prise weniger, damit justierte man alles.« Plötzlich lächelt er. »Wenn wir auch so schlicht konstruiert wären - ein Räderwerk, einfach aufzuziehen, ein bisschen zu justieren … Aber jeder von uns ist sein eigenes kleines, rätselhaftes Universum,
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