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Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irma Krauss
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beginnt, langsam die Balustrade entlangzugehen. Veronika sieht ihm unentschlossen nach, dann folgt sie ihm. Sein Blick ist nach unten gerichtet, als hätte er sie vollkommen vergessen. Das ist aber ein Irrtum. Denn jetzt bleibt er stehen.
    »Veronika? Kannst du einmal versuchen, alle Bewohner einer Millionenstadt im Geiste hierher zu transportieren? Kannst du zum Beispiel alle Menschen, die in München leben, sichtbar hier versammeln?«
    »Wo? Da unten?«
    »Ja. In den Straßen, auf den Plätzen, wo du willst.«
    »Eine Million Menschen?«, vergewissert sie sich ungläubig.
    »Ja, bitte. Männer, Frauen und Kinder.«
    Unter seinem angespannten Blick schaut sie hinunter und versucht es. Sie probiert, die Straßen, Plätze und Fenster mit Menschen zu füllen. Wie ein Maler, der mit einem Borstenpinsel tüpfelt. Ganz München hier zu versammeln, was für eine Idee. Und eine Million - einfach unvorstellbar.
    »So viel Fantasie besitze ich nicht«, murmelt sie.
    Der Amerikaner beobachtet sie. »Lass dir helfen«, sagt er. »Versuche, es einmal nüchtern anzugehen. Kennst du München?«
    Sie nickt.
    »Dann geh dort in eine beliebige Straße. Befiehl alle Leute aus den Häusern auf die Gehsteige, du weißt schon: Kinder und Erwachsene, Gesunde und Kranke, Rüstige und Gebrechliche, einfach alle. Schaffst du das?«
    »Mit einer Trillerpfeife, oder wie?«
    »Das ist egal«, sagt er und lächelt nicht.
    Veronika schließt die Augen. Sie denkt sich einen Lautsprecherwagen und eine Durchsage. Und Menschen, die bunt aus allen Häusern der Gärtnerstraße quellen, auch ihre Tante, die dort lebt. Dann nickt sie.
    »Nun geh in die nächste Straße und mache dasselbe. Und  weiter so, immer fort, Straße für Straße. Hole sämtliche Bewohner Münchens aus ihren Häusern. Kannst du das vor dir sehen?«
    Der Lautsprecherwagen fährt in die nächste Straße.
    »Na ja … ja.«
    Es ist gelogen, ihr Kopf kapituliert vor einer solchen Anstrengung.
    »Sie sind alle in den Straßen«, sagt sie. »Alle Leute aus allen Stadtteilen.«
    »Jetzt schicke sie zum Bahnhof.«
    Sie starrt den Amerikaner an.
    »Wie du das organisierst, spielt keine Rolle, stelle dir nur einfach vor, die Menschen steigen in Züge.«
    Veronika senkt endlich die Augen. »Sie meinen, in Viehwaggons …«
    »Nein«, sagt er kalt, »an das dachte ich nicht. Du sollst nur schlicht die Einwohner Münchens mit der Bahn wegbringen. Außerdem die Kölner und Frankfurter. Und die Menschen aus Essen, Hannover und Dresden. Dazu die Nürnberger, die Stuttgarter, die Leipziger und die Augsburger. Bringe sie hierher. Stelle sie allesamt mit ihren Köfferchen da unten in die Ebene. Wer nicht stehen kann, wird gestützt; Mütter tragen ihre Babys auf dem Arm, Väter halten Kinder an der Hand und helfen den Alten. Es ist ein Gedankenspiel, mit dem ich mich einmal beschäftigt habe, ein reines Spiel mit Zahlen. Du kannst, falls du an München, Köln, Frankfurt, Essen, Hannover, Dresden, Nürnberg, Stuttgart, Leipzig und Augsburg zu sehr hängst, stattdessen auch andere Städte entvölkern: Bring alle Dortmunder, Wuppertaler, Mannheimer, Hamburger und Berliner hierher, das wäre etwa dieselbe Menge, sechs Millionen.«
    Veronika blickt betäubt in die Ebene hinaus, die Dörfer verschwimmen ihr vor den Augen.
    »Wenn du jetzt noch fünf Millionen hinzuaddierst, hast  du die Gesamtzahl der Juden, die im Januar 1942 noch in Europa lebten. Und du hast das Problem, vor dem die Herren der Wannseekonferenz standen«, sagt der Amerikaner. »Es war hauptsächlich ein Mengenproblem. Verstehst du nun?« Er wendet sich ihr zu. »Verstehst du, Veronika?«
    »Niemand kann das verstehen«, sagt sie leise.
    »Nein, niemand«, sagt der Amerikaner.
     Sie setzen in der Abgeschiedenheit des hellen Turmraumes ihr Abendessen fort. Es besteht keine Notwendigkeit zu reden, das Ungeheuerliche ist gesagt. Veronika kann sich nur dumpf darüber wundern, dass ihr das Abendbrot schmeckt und dem Amerikaner übrigens auch, während doch in der Ebene draußen die Schatten der Menschen stehen, die er heraufbeschworen hat. Er wird ihr erzählen, warum er es getan hat, sie braucht ihn nicht dazu aufzufordern, das ist in seinem Schweigen zu spüren, sie kann es gelassen abwarten.
    Die Viertelstundenglocke, die sie gewöhnlich nicht mehr wahrnimmt, schlägt hell und laut über ihren Köpfen. Die tiefe Stundenglocke folgt. Plötzlich taucht in Veronika der Gedanke an den Abschied auf. Dies wird aller Wahrscheinlichkeit nach

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