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Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irma Krauss
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Lächeln, das die Verlegenheit kaschieren soll.
    »Für heute ist es genug, Veronika. Nun habe ich schon wieder den ersten Ruf geschwänzt, der zweite ist fällig, ich muss hinaus auf den Kranz.«
    Er zupft das Leibchen zurecht. »Zum Glück darf ich auch einmal unzuverlässig sein«, sagt er spottend, »niemand schickt mir deshalb eine Feuerwache auf den Turm.«
    »Eine Feuerwache?«
    »Aber ja.« Er geht zur Tür. Seine Hemdärmel sind jetzt das Hellste im Raum. Den Riegel in der Hand, steht er da und lauscht mit schrägem Kopf nach oben, gleich wird es so weit sein. »Das war doch immer die Hauptaufgabe des Türmers, hier und anderswo, Feuer zu melden«, sagt er. »Zur Zeit des Jungen wurde noch jeder Ruf von der Stadtpolizei  erwidert. Die Wache riss unten das Fenster auf und schrie herauf. Man überzeugte sich gegenseitig von der Wachsamkeit des anderen.«
    Ding-ding, ding-ding, die halbe Stunde.
    »Mr James? Darf ich hier schlafen?«
    »Wenn du willst.« Er nickt ihr zu.
     

52
    Die Fledermäuse sind längst fortgezogen, und bis sie wiederkommen, dauert es. Jascha ist ohne sie im Dach völlig allein. Und es ist bitterkalt. Wenn er nicht erfrieren will, muss er sich bewegen. Er kann inzwischen im Gebälk klettern wie ein Affe - sagt der Einarmige. Jascha selbst hat noch nie einen Affen gesehen, aber es wäre schön, wenn er einen hierhätte, zur Gesellschaft. Alles, was er haben darf, sind seine Steine. Denn Steine verraten nichts. Es sei denn, er würde einmal versäumen, sie auf einen Haufen zu schieben. Dann würden die Steinchen darüber Auskunft geben, dass hier jemand Figuren legt und die Namen amerikanischer Städte auf Balken schreibt, neben die Namen von Menschen, die er nicht vergessen will. Sooft Jascha das Dach verlässt, fegt er die Steinchen in die Wollmütze, die ihm der Einarmige gegeben hat und die anscheinend mit seinem Vorrat mitwächst, denn sie ist schon ein richtiger Sack geworden, den er dann unter einem Balkenstapel versteckt.
    Dabei könnte er sich, anstatt dem lieben Herrgott den Tag zu stehlen, so gut im Turm nützlich machen, behauptet der Einarmige, der dauernd fremde Hilfe braucht, für den Eimer, fürs Brennholz, für die Asche. Auch fürs Fahnenhissen, denn wenn Beflaggung angeordnet wird, müssen zwei Fahnen hinaus, die schwarz-weiß-rote und die Hakenkreuzfahne. Sie wieder hereinzuholen, ist mit nur einem Arm vollends unmöglich.
    »Tagedieb«, sagt er, und Jascha macht ein unglückliches Gesicht, weil das von ihm erwartet wird und weil er inzwischen die raue Art des Einarmigen kennt.
    Aber es kann doch wohl nicht sein, dass er für immer und ewig dem lieben Herrgott den Tag stehlen muss?
    »Nach dem Krieg...«, fängt er manchmal an und weiß dann nicht weiter.
    Nach dem Krieg, das darf man draußen gar nicht sagen, es muss heißen: nach dem Sieg. Der Einarmige, der kein Vaterlandsverräter ist, wünscht sich natürlich den Sieg, sagt er, aber wenn er sich Jascha ansieht, darf er sich den Sieg nicht wünschen. Es sei denn, die Nazis werden durch den Sieg großmütig und erlauben so einem Jungen, hierzubleiben. Aber das kann er sich eigentlich nicht vorstellen, denn jeden Tag steht etwas in der Zeitung, woran die Juden schuld sein sollen. Wenn dem Feind wieder ein Schlag geglückt ist, heißt es, den Plan hat ein Jude ausgeheckt. Alle Juden scheinen jetzt auf der Seite des Feindes zu sein, außer denen, die man in Arbeitslager gesteckt hat, meint der Einarmige. Er frage sich nur, was sie eigentlich mit den Kindern gemacht haben, kleine Kinder können doch nicht arbeiten …
    »Der kleine Sigi bestimmt nicht«, sagt Jascha. Gewöhnlich hält er den Mund, wenn der Einarmige so vor sich hinredet, aber das ist ihm jetzt herausgerutscht. »Man hat sie doch umgesiedelt. Onkel Kühn ist ein guter Arbeiter, ihn kann man überall gebrauchen.«
    Er sagt es trotzig, er möchte gern, dass es stimmt - aber warum hat er dann solche Angst gehabt an dem Morgen, als die SS kam?
    Der Einarmige sieht ihn seltsam an. »Es gibt Gerüchte«, sagt er langsam. »Andeutungen, keiner traut sich’s laut zu sagen, so etwas fällt unter Gräuelpropaganda und man kommt dafür nach Dachau...«
    »Was für Gerüchte?«, fragt Jascha. Er hat auf einmal Herzklopfen und forscht im Gesicht des Einarmigen.
    Aber der verschließt es wieder. »Das Gute an dir ist«, knurrt er, »dass man sich kein Blatt vor den Mund nehmen muss. Und das Schlechte ist, dass du ein Kind bist, einem Kind sagt man nicht

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