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Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irma Krauss
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der Amerikaner mit verhaltener Stimme.
    Sie überlegt. »Es fühlt sich an, als würde man fahren? Denke ich mir.«
    »Ja. Du fährst gemächlich an den Wolken vorüber. Oder drehst dich im Kreis und gleitest auf deinem Wolkenschiff durch die Wolkenschleier. Der Junge nannte den Raum sein Wolkenschiff. Wie findest du das?«
    »Wolkenschiff? Schön! Aber verwunschenes Turmzimmer hat auch was. Mr James …?«
    »Hm?«
    »Als ich mir vorstellte, die Treppen wären zusammengebrochen, fand ich das... richtig gut. Das... wollte ich nur sagen.« Sie fühlt ihr Gesicht brennen, Grenzverletzung, sie hat die verbotene Linie überschritten. Sie hält die Luft an - was wird er sagen, was wird er tun?
    Der Amerikaner sagt nichts. Erst als sie sich schon beruhigt hat und gar nicht mehr auf eine Antwort wartet, erhält sie sie. »Die Treppen sind solide da. Du wirst sie bald hinuntergehen, um nie mehr wiederzukommen. Das ist so, da wollen wir uns nichts vormachen. Es ist eine allgemeine Beobachtung, dass man sich in einer Stunde des Bewegtseins, vielleicht der Erschütterung, der Erkenntnis, was immer du willst, dass sich also das Gefühl in diesem Moment einem anderen Menschen zuwendet. Und in deinem verwunschenen Turmzimmer ist nun mal nur einer außer dir.«
    Veronikas Gesicht brennt wieder. Er hat sie verstanden. Aber dass er so einfach darüber hinweggeht …
    Da sagt er jedoch: »Bleib noch ein wenig, bevor du die Treppe benützt. Bleib mit deiner Neigung, dich zuzuwenden. Möchtest du wissen, warum ich dir von der Wannseekonferenz erzählte? Und warum ich dir die Toten in die Ebene stellte?«
    »Ja.« Sie dreht ihm wieder das Gesicht zu.
    Er spricht zur Decke hinauf, leise und ruhig, wie man jemandem erzählen mag, den man so gut kennt wie sich selbst.
    »Angefangen hat es lange vorher. Etwa als Adolf Hitler mit mageren sechs Zeilen im Lexikon stand, heute füllt er Bücherschränke. Du kennst die Geschichte, ihr lernt sie in der Schule, ihr haltet Referate, ihr besucht Gedenkstätten, die damals, während der Besprechung mit anschließendem Frühstück« - jetzt zögert er einen Wimpernschlag lang -, »als Vernichtungslager konzipiert wurden, für den größten Völkermord aller Zeiten.«
    Veronika schaut ihn von der Seite an, während sie durchaus meint, eher wegsehen zu müssen. Als läge auch darin etwas Ungehöriges, Zeugin seiner Erzählung zu werden.
    »Man beschloss und nannte den Beschluss die Endlösung der Judenfrage, alle Juden im Reich und in den besetzten Ländern nach Osteuropa zu bringen, weg von ihren Nachbarn, ihrem Lebensraum, ihrem Arbeitsplatz, sie also mit Stumpf und Stiel auszureißen aus dem Leben und sie in angeblichen Arbeitslagern schubweise zu vernichten, wie man Haufen von Unkraut anzündet. Das groß angelegte planmäßige Morden lief in Osteuropa schon seit dem Vorjahr. Es wurde nun aber von Berlin aus straff organisiert. Alle Juden waren längst in Listen erfasst, man musste die Listen nur abarbeiten. In dieser Stadt zum Beispiel gab es nach den erzwungenen Ausreisewellen der Dreißigerjahre noch genau vierzig Juden. Sie wurden im Frühjahr nach besagter Konferenz weggebracht. Keiner, weder Mann noch Frau noch Kind, hat überlebt. Nur einer ist aus dem Todeszug, der zum Bahnhof getrieben wurde, ausgebrochen. Er war klein und wendig und entkam.«
    »Der Junge«, flüstert sie.
    Der Amerikaner hat die vorher weit geöffneten Augen nun geschlossen. Sein Gesicht ist still, die Hände liegen auf dem weißen Hemd, das Leibchen ist verrutscht. Es ist ein neues Gesicht, denn wann hätte ihn Veronika je auf dem Rücken liegen sehen, ein geglättetes, straffes, fremdes Gesicht mit ein paar Fältchen am Ohr und dem kleinen Faltenkranz am Augenwinkel. Es schüchtert sie ein, denn alles Vertraute fehlt: der ruhige, manchmal spöttische Blick, die hochgezogenen Augenbrauen, die Stirnfalten, die Bewegung der Lippen. Sosehr es sie einschüchtert, so sehr zieht es sie aber auch an. Sie möchte sein Profil nachfahren, ihm mit dem Finger über Stirn, Nase, die Lippen, das Kinn streichen, ganz leicht, dann soll er hersehen und soll lächeln …
    »Wie ging es weiter?«, haucht sie und hat Atemnot.
    Der Amerikaner öffnet die Augen. Er richtet sich langsam auf und stützt sich auf den Ellenbogen.
    Noch bevor sein Blick voll auf ihr ruht, sitzt Veronika. Ihre Unbefangenheit ist dahin - wenn er wüsste …
    Er scheint ihre Verwirrung zu bemerken und steht auf. Dann schaut er auf sie hinunter, auf ihr schiefes

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