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Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irma Krauss
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alles.«
    »Ich werde elf«, wendet Jascha ein.
    »Ja, du Pimpf.«
    »Wo ist Dachau?«
    »Da willst du nicht hin. Da will keiner hin. Schluss jetzt.« Jascha sucht Dachau im Lexikon. Es ist ein Ort nordwestlich von München, in einer Sumpfebene. Vielleicht wird man in den Sumpf getrieben und muss jämmerlich untergehen? Das hätte ihm der Einarmige aber auch sagen können.
     Der Krieg geht weiter. Er ist jetzt ein totaler Krieg geworden, man weiß nicht, wann er aufhört. Spätestens, wenn wir keine Soldaten mehr haben, meint der Einarmige düster. Er zeigt Jascha die Todesanzeigen in der Zeitung. Auf der Zeitung liegen die Haare, die er ihm abgeschnitten hat. So läuft kein richtiger Bub herum, hat er gesagt und die Schere genommen. Die Haare kommen in den Ofen, genau wie die Fingernägel, die Jascha sich selbst schneiden soll. Nichts darf von ihm liegen bleiben, nicht einmal ein Fingernagel.
    Der Einarmige schaut ihm zu und passt auf, dass kein Nagel davonspritzt. »Meine hätten es auch nötig«, brummt er und mustert seine gekrümmten Finger.
    Aber nicht einmal das darf Jascha machen. Seine Frau muss ihm die Nägel schneiden, sagt der Einarmige. Es wäre nämlich dumm, wenn sie beide so gut aufgepasst hätten, und irgendeine Kleinigkeit würde sie dann verraten.
    »Vergiss nie die Kleinigkeiten«, warnt er Jascha. Dann wirft er die Haare und die Nägel ins Feuer und legt die Zeitung wieder auf den Tisch.
    »Es wird Zeit, hinunterzugehen«, sagt er, und Jascha steht auf. Wenn es im Turm ruhig ist, muss er nicht den Fluchtweg benützen, sondern bekommt die Tür aufgeschlossen.
    Beim Hinuntergehen grummelt der Einarmige, der Steidle habe ihm erzählt, auf einer Versammlung in der vergangenen Woche sei komischerweise nicht mehr das Wort Sieg gefallen und das habe dem Steidle zu denken gegeben. Vom Durchhalten sei die Rede gewesen. So viel werde man unter Kameraden, unter Kriegsbeschädigten, wohl noch sagen dürfen: dass es einem zu denken gebe, oder? Das habe der Steidle gesagt und dabei komisch geschaut.
    Er hätte ja gern seinen Senf dazugegeben, unter Kameraden und Kriegsbeschädigten, brummt der Einarmige, aber es sei nun einmal so, dass nur er einen Juden habe und der Steidle nicht, er müsse vorsichtiger sein als jeder andere.
    »Bub, es kommen noch härtere Zeiten auf uns zu. Seit Stalingrad ist es nicht besser geworden. Angst haben alle, seit der Dr. Goebbels den totalen Krieg erklärt hat. Aber einmal muss es ja zu Ende sein, so oder so. Halten wir eben durch. Da, nimm das mit.« Der Einarmige langt in die Kitteltasche und holt einen Kanten Brot heraus. »Ich kann es nicht beißen.«
    Als Jascha im Dach ist und das Brot ganz langsam kaut, merkt er, dass ihn nicht nur das Essen wärmt. Da ist noch etwas. Etwas, das man nicht sehen und nicht anfassen kann. Es ist die Erinnerung daran, wie der Einarmige das Brot in die Kitteltasche gesteckt hat, als es noch nicht hart gewesen ist.
     

53
    Das Morgenlicht dringt hell durch die gotischen Fenster ins Wolkenzimmer. Veronika setzt sich auf. Sie hat den Glockenschlag noch im Ohr, der sie geweckt hat. Das Zifferblatt an ihrem Handgelenk zeigt, dass es fünf Uhr ist. Sie reckt sich und dehnt sich und sieht sich um.
    An einem solchen Ort aufzuwachen! Mit einem tiefen Atemzug lässt sie sich zurückfallen und schiebt die Arme in den Nacken - unglaublich, wie es hier ist. Und dass sie hier ist. Und dass sie weggehen und eine Erinnerung mitnehmen wird, die sonst niemand hat. Die Uhrglocken haben aus nächster, luftiger Nähe ihren Schlaf begleitet. Ihr ist, als hätte sie jede Stunde schlagen hören. Sie rollt sich noch einmal zusammen. Doch merkwürdigerweise kommt der Schlaf nicht wieder. Vielleicht wenn sie auf der Toilette war …
    Sie schlüpft aus den warmen Decken und geht leise zur angelehnten Tür. Vor der Stiege bleibt sie stehen. Ist es möglich - sie setzt den nackten Fuß in die Pforte und beugt sich hinaus -, tatsächlich, der Amerikaner lehnt ein paar Meter links von ihr an der Balustrade. Er schaut zum Horizont, er kann sie nicht bemerken, sie muss sich nur wieder zurückziehen und ins Bett kriechen. Doch das kommt jetzt nicht mehr infrage. Veronika schleicht hinunter zur Toilette. Sie wäscht sich und zieht sich an.
    Der Amerikaner zeigt keine Verwunderung, als sie plötzlich neben ihm steht, die Hände auf der Balustrade, und ihn angrinst.
    »Guten Morgen«, sagt er nur und berührt für eine winzige Sekunde ihre Hand, bevor er wieder die Unterarme

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