Das Wolkenzimmer
die plötzliche Vision, dass er so stand, bevor sie kam, jeden Morgen, jeden Abend, und hinaussah. Ohne Regung und ohne je mit einem Menschen zu reden oder gar einen an sich heranzulassen.
Aber auch sie erreicht ihn nicht, oder allenfalls dann, wenn er will; eine kurze, geschenkte Nähe - dann ist er schon wieder weg, er entzieht sich jedem bewussten Zugriff. Wenn sie nun das machen würde, was er gemacht hat, als er ihre Hand für einen Moment warm streifte - nur das. Was würde sein? Oder wenn sie die Lücke schließen würde, indem sie heranrückte, bis die feinen Härchen an ihrem Oberarm auf sein Hemd träfen, mehr nicht, nur ein Austausch von Körperwärme?
Sie bekommt schon Herzklopfen. Aber nein, es ist einfach nicht möglich. Eine Berührung, und sei es die kleinste, muss von ihm ausgehen. Sie legt ihre Hände breit auf die Brüstung, sie atmet tief ein und schaut in den Himmel, sie bietet sich praktisch an. Sie wartet auf einen Blick und ein Lächeln und darauf, dass er seine ineinandergelegten Hände für einen Moment löst und ihre Schulter, ihren Arm oder ihre Hand anfasst, als Zeichen, dass sie sich nahe sind. Es wäre doch so einfach.
Aber nichts geschieht, sie wartet umsonst.
Hat sie sich die Nähe wieder einmal nur eingebildet? Der Mann ist ungreifbar, er ist ein vollkommenes Rätsel.
»Ich glaube, morgen muss ich weg«, murmelt sie.
Er dreht nicht einmal den Kopf in ihre Richtung. Und als er es endlich doch tut, weiß sie auch nicht, ob er sie gehört hat.
Denn er sagt nur: »Wenn wir in deinem Wolkenzimmer frühstücken wollen, solltest du jetzt zum Bäcker gehen.« Damit greift er in die Hosentasche und zieht die Geldbörse heraus.
Veronika lässt sich das nötige Kleingeld und den Turmschlüssel geben. Dann geht sie hinunter, die merkwürdigsten Gedanken im Kopf. Sie sieht sich selbst von außen, mit Röntgenaugen durch die Turmmauern hindurch, eine junge Frau, die die Stiegen herunterkommt, nicht zu schnell, nicht zu langsam, mit einer Selbstverständlichkeit, die zu Fragen reizt - was hat die Frau im Turm zu suchen, was hält sie dort fest, warum ausgerechnet dieser Ort, wie fühlt sie sich, was will sie da? Denn eine Besucherin ist sie offenbar nicht, sie hat den Schlüssel in der Tasche, sie ist hier - zu Hause?
Für die Röntgenaugen von außen, das steht einmal fest, ist Veronika das größere Rätsel.
Außerordentlich interessanter Gedanke! Sie grinst. Sie öffnet eine imaginäre Bremse und lässt die Füße laufen, treppab, treppab, treppab. Die Eile wird zum Vergnügen, und gar im steinernen Treppenturm, die Spirale hinab, die Außenmauer entlang, immer im Kreis - ihre Brüste hüpfen, ihre Beine sind stark, ihre Füße federn. Der Amerikaner kocht jetzt oben Tee, stapelt frisches Geschirr in die Plastikwanne und legt alles Nötige fürs Frühstück dazu. Er wird im Wolkenzimmer ihr Bettzeug zur Seite schieben und die Decke ausbreiten, er wartet nur noch auf die Brötchen …
Sie ist unten. Sie schließt die Tür auf und sperrt sie auch korrekt wieder zu. Der Bäcker, der einzige, der bereits geöffnet hat, ist in einer Seitenstraße. An zwei Stehtischchen frühstücken ein paar Arbeiter und begaffen sie ungeniert. Veronika geht zur Theke und erwidert eine dreiste Bemerkung in ihrem Rücken mit einem unverbindlichen Seitenblick. Das sind Signale, die man versteht, Männer, die man versteht, das Übliche eben, das bekannte Spielchen - eine Herausforderung ist es nicht. Es lohnt sich nicht.
Sie kauft großzügig ein und verlässt den Laden, ohne noch einmal zurückzusehen.
Als sie mit ihrer Bäckertüte zum Marktplatz kommt, probiert jemand die Turmtür aus. Er findet sie verschlossen, rüttelt an der Klinke und tritt dann zurück, den Kopf im Nacken, um die Zeile zu lesen, die noch immer auf der Mauer steht. LOOK OUT MATTIS, NICK IS HERE.
Es ist Mattis.
54
Die Falken haben es gut und die Tauben auch, die geht der Krieg nichts an. Auch die Fledermäuse sind zurückgekommen und hängen im Dach und haben Junge, als könnte ihnen gar nichts passieren. Der Einarmige sagt, man möchte manchmal ein Vogel sein oder eine Fledermaus und nichts mehr wissen. Und nichts hören und keine Zeitung sehen. Wenn ein Tier getroffen wird, das ist dann eben hin. Aber der Mensch, der muss schon lange vorher Angst haben und leiden. Zu denken, was der Feind mit Hamburg gemacht hat. Eine Millionenstadt zerstört, die Menschen tot oder obdachlos, Tausende im Feuersturm verbrannt. Und was die
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