Das Wolkenzimmer
an die Wand.
Der Einarmige schaut eine Weile auf ihn nieder, er wartet. Dann tut er einen ungeduldigen Schnaufer und setzt sich wieder. »Los, schau in dein Buch«, fordert er. »Da steht doch sonst auch alles drin. Beschneidung heißt das, los, schau nach. Lies vor.«
Jascha blättert mit zitternden Fingern. Er findet das Wort.
»Beschneidung«, liest er kaum hörbar vor. »Ein- oder Abschneidung der Vorhaut des männlichen Gliedes bei Juden …« Er verstummt.
»Dir fehlt da ein Stückchen Haut«, sagt der Einarmige mit plötzlich gütiger Stimme. »Ich denke, sonst ist alles dran. Zeigen willst du es ja nicht. Na, lass gut sein. Aber verstehst du, Bub, das darf keiner sehen. Sonst bist du geliefert.«
Jascha nickt betäubt. Alles, was er sich ausgedacht hat, war für die Katz. Aber dass das ein Grund sein könnte, darauf wäre er im Leben nicht gekommen.
55
Sie stehen sich gegenüber. Der Moment des Erkennens ist so heftig gewesen, dass Veronika alles Blut aus dem Gesicht gewichen ist. Nun strömt es zurück, und mit der Röte, die sich bis unter ihre Haare ausbreitet, überflutet sie unerwarteter, heißer Zorn.
Jeden Tag hat sie mit Mattis gerechnet, jeden Tag! Bis zum Sonntagabend. Und jeden Tag ist ein Stück mehr kaputt gegangen. Konnte er denn nicht kommen, solange sie auf ihn gewartet hat? Und wie sie gewartet hat!
Sie starrt ihn an, unfähig, irgendetwas anderes zu tun.
Und wie gemein von ihm, sich nach alledem nicht einmal anzumelden! Er war auf die Begegnung vorbereitet, sie nicht, sein Blick hat sie getroffen, ehe sie sich schützen konnte. Und schützen muss sie sich, denn er hat sie schon genug verletzt.
»Nick …«, sagt Mattis rau und streckt die Hand nach ihr aus.
Veronika dreht sich weg. Sie drückt die Bäckertüte an die Brust und fischt mit zitternden Fingern den Turmschlüssel aus der Hosentasche.
»Nicky …«
»Was machst du hier, Mattis?«, stößt sie abgewandt hervor. Würde er sie Vroni nennen, dann, vielleicht, wäre noch irgendetwas zu retten.
Der Schlüssel klemmt, das tut er sonst nicht. Endlich lässt er sich drehen.
»Musst du da rein?«, fragt Mattis hilflos, gereizt und kleinlaut zugleich.
Veronika kennt jede Schattierung seiner Stimme. Sie kann ihn nicht sehen, weil er hinter ihr steht. Das ist eine winzig kleine Erleichterung und macht es ihr möglich, ihr Gesicht unter Kontrolle zu bringen.
»Ich bin die halbe Nacht gefahren. Wir könnten zusammen frühstücken«, unternimmt er einen neuen Anlauf. »Sicher hat schon irgendein Café geöffnet. Du musst doch wohl nicht wirklich...«
»Doch, Mattis.« Sie dreht sich in der Tür um, sie ist eine Stufe höher als er und das hilft ihr auch etwas. »Ich muss. Aber wenn du möchtest, kannst du mit uns frühstücken.«
»Mit uns?«
»Der Turm gehört ja nicht mir. Hier gibt es noch einen Hausherrn«, sagt sie steif.
»Ja, natürlich, ich weiß, den alten Türmer. Deine Eltern haben schon gedacht...« Mattis grinst für eine Sekunde. »Aber wieso soll ich mit dem frühstücken? Ich bin gekommen, um dich nach Hause zu holen.«
Sein Ton bittet - aber es sind die falschen Worte.
»Ach«, sagt Veronika, und ihre Stimme bebt. »Fällt dir das nicht ein bisschen spät ein?«
»Eigentlich nicht«, verteidigt er sich. »Wir haben noch drei Stunden, bevor wir losfahren müssen. Dann allerdings wirklich, wegen der Abschiedsfete. Fünfhundert Kilometer - du weißt ja.«
Veronika sieht ihn ungläubig an; nicht nur dass er ihre Frage absichtlich falsch versteht und auf harmlos macht, nein, er redet auch noch von seiner Abschiedsfete.
»Was soll ich da, Mattis? Kannst du mir das sagen?«
»Ich hätte dich gern dabei...«
Er hätte sie gern dabei, mit den anderen zusammen, sie soll nicht fehlen, vielleicht will er auch keine unangenehmen Fragen beantworten... Veronika hört es mit scharfem Ohr heraus. Doch vor Mattis’ eindringlichem Blick schlägt sie unwillkürlich die Augen nieder - das darf er nicht machen, so darf er sie nicht ansehen.
»Komm herein«, murmelt sie schwach, »ich muss abschließen.«
Er zögert, dann geht er aber doch an ihr vorbei in den Turm, und sie weicht einer Berührung aus, indem sie sich an die Tür drückt.
»Da hinauf?« Mattis schaut die Treppe hoch, mit einem Gesicht, als gäbe es hier tatsächlich irgendeine andere Möglichkeit.
Sie nickt und bedeutet ihm, voranzugehen. Und jault erschrocken auf, als er es nicht tut, sondern stehen bleibt und ihren Arm berührt. Mit
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