Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irma Krauss
Vom Netzwerk:
Gedanken nicht zu weinen. Jascha hat auf seinen Säcken gelegen und ins dunkle Dach hinaufgeschaut. Wenn er nicht geblinzelt hat, sind seine Augen trocken geblieben. Es hat ihn gewundert, dass die Gedanken, die doch im Kopf sind, so viel in der Brust anrichten können. Sie können brennen und den Hals zuziehen, sie können den Atem stocken lassen, der wie ein Schluchzer ist, wenn er wiederkommt. Manchmal verstellen sich die Gedanken auch. Sie weiten die Brust, und dann ist es, als wäre alles ganz einfach und man hätte nur früher darauf kommen müssen.
    Die vielen Kinder, die alle Tage auf den Turm rennen - Jascha hört ihre Füße und ihre Stimmen, wenn er im Dachfirst ist und zum Wandloch hin lauscht, wo sie ahnungslos vorüberlaufen, helle, fröhliche Stimmen -, mögen sie auch ausgebombt oder evakuiert sein, diese Kinder: Sie dürfen doch existieren. Ob sie das eigentlich begreifen? Aber natürlich ist es für sie ganz normal, zu existieren, hat Jascha sich überlegt. Die vielen Kinder liegen jetzt alle irgendwo in ihren Betten und schlafen, und wenn man ihnen erzählen würde, dass im Kirchendach ein Elfjähriger ist, den es nicht geben darf, würden sie das vielleicht gar nicht glauben.
    Am Morgen hat der Einarmige so finster verbissen hantiert, dass Jascha sich keinen Mucks zu machen getraute, sondern sich lieber hinter seinem Lexikon versteckte. Bald musste er wieder ins Dach, denn der Einarmige wollte nach Hause fahren, um Essen zu beschaffen. Es ist einer dieser langen Sommertage gewesen, und Jascha hat viel Zeit gehabt, weiter über die Kinder nachzudenken.
    Der Einarmige faltet die magere Zeitung zusammen, um sie nächstes Mal seiner Frau mitzubringen, die die Todesanzeigen sammelt und den Rest des wertvollen Zeitungspapiers zum Einwickeln verwendet.
    Jascha überlegt, wie er anfangen soll. Er hat Herzklopfen.
    »In der Stadt sind doch jetzt so viele fremde Kinder …«, beginnt er.
    »Das darfst du laut sagen«, knurrt der Einarmige. »Diesen Winter kriegen wir nicht einmal Johannisbeeren. Meine Frau hat alle eingekocht, aber der verfluchte Schnüffler lässt sie jetzt nicht mehr in Ruhe. Er hat es geschafft, dass sie die Flaschen an die Kinderlandverschickung abgeben musste!« Er knirscht mit den Zähnen, während er noch einmal im Rucksack wühlt - aber es ist nichts mehr drin, die magere Ausbeute liegt bereits vollzählig auf dem Tisch.
    »Natürlich hat meine Frau dazugelernt«, sagt er mit einem bösen Grinsen. »Die Großmutter sitzt jetzt in einem Weizensessel und nicht mehr auf Seegras. Erst wenn der Weizen ausgeht, wird wieder mit Seegras gepolstert. Und sonst hat sie auch ein paar Verstecke gefunden, meine Frau. Nur draufkommen dürfen sie ihr nicht. Sie lebt beinah so gefährlich wie wir beide.«
    Jascha blickt in sein sorgenvolles Gesicht und sagt: »Wenn ich aber weg bin …«
    »Wo willst du denn hin?«
    Jascha erzählt stockend, was ihm in der Nacht eingefallen ist. Dass er sich einfach unter die Kinder mischen kann, sobald er etwas Normales zum Anziehen hat, eine kurze Jungenhose und ein Jungenhemd …
    »Unter welche Kinder?«, sagt der Einarmige.
    Jascha sieht mit schrägem Kopf zu ihm auf. »Vielleicht unter die von der evakuierten Schule? Ich kann ja lesen und schreiben. Und zählen und rechnen auch...«
    Der Einarmige starrt ihn an. Dann setzt er sich und beugt sich zu Jascha über den Tisch. »In Großdeutschland«, sagt  er, »gibt es keine Unordnung. Jeder ist registriert, tot oder lebendig. Wenn da unten tausend Kinder herumrennen, weiß doch jedes, wohin es gehört. Jeder Haushalt meldet seine Leute. Und kriegt darauf die Lebensmittelkarten. Jede Kindergruppe hat ihren Führer. Verstehst du das? Es gibt keine Kindergruppe, in die du gehörst, im ganzen Reich nicht! Und wenn du in einen Haufen Kinder hineingeraten würdest und es ginge ans Waschen, dann hätten sie dich sofort. Du weißt doch, dass du da anders aussiehst, oder nicht?«
    Der Einarmige schaut durch die Tischplatte hindurch genau auf Jaschas Hose.
    Jascha bekommt einen heißen Kopf, er bringt kein Wort heraus.
    »Ja, Herrschaft, das müssen sie dir doch gesagt haben, deine Leute? Oder?«
    Jascha sieht ihn stumm an. Etwas ist mit diesem Körperteil, der sich neuerdings komisch benimmt und überhaupt auf einmal größer wird, etwas, das Hermann ihm wohl gesagt hat, aber jetzt weiß er es nicht mehr.
    »Kruzitürken, beschnitten bist du! Oder? Lass sehen.« Der Einarmige steht auf.
    Jascha schrumpft und drückt sich

Weitere Kostenlose Bücher