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Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irma Krauss
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deutsche Luftwaffe schon seit drei Jahren mit England macht!
    »Man darf es ja nicht laut sagen, aber die Engländer sind doch auch Menschen«, murmelt der Einarmige. »Du müsstest noch viel mehr Kreuzchen in dein Lexikon malen. Bei London und Liverpool, Bristol und Coventry. Und noch bei solchen, die man überhaupt nicht aussprechen kann, wenn man kein Radio hat und nicht in der Wochenschau war, wo es einem vorgesagt wird. Vergeltung hin und Vergeltung zurück. Das hört erst auf, wenn kein Stein mehr auf dem anderen steht. Und da schau«, sagt er und wirft die Zeitung auf den Tisch. »Jeden Tag Todesanzeigen auch bei uns. Unser Turm steht noch, und wenn du hinunterguckst, willst du fast nicht glauben, dass Krieg ist. Aber dann schaust du in die Zeitung und weißt es besser. Lies das«, fordert er Jascha auf.  »Du kannst schöner lesen als ich. Da, wo das Eiserne Kreuz ist.«
    »Hart und schwer traf uns die Nachricht«, liest Jascha, »dass nun auch unser zweiter Sohn, Bruder und Neffe, Gefreiter Franz Hegele, an der Ostfront den Heldentod erlitten hat …«
    Er schaut auf.
    »Und da.« Der Einarmige stößt den Finger ans nächste Kreuz.
    »Mit tiefstem Schmerz«, liest Jascha leise, »erfüllte uns die traurige Nachricht, dass unser jüngster Sohn und Bruder Gefreiter Anton Roger sein Leben fürs Vaterland hingab...«
    »Da.«
    »Tief erschüttert bringe ich zur Kenntnis, dass mein geliebter Gatte, Obergefreiter Josef Miller, infolge schwerer Verwundung im Lazarett den Heldentod starb. Unser Sohn Martin ging ihm vor drei Monaten im Heldentod voraus...«
    »Gib her. Meine Frau sammelt die Todesanzeigen, ich muss sie ihr mitbringen.«
    Jascha weiß, warum der Einarmige so eine Laune hat. Es ist der Schrecken vom Abend vorher. Ein Schnüffler von der Ortsgruppe war da, gerade als er den Turm zusperren wollte. Der Schnüffler hat sich fürs Radio interessiert, das Radio müsste hier oben doch einen besonders guten Empfang haben, oder?, hat er gesagt und so hinterhältig dreingeschaut, dass der Einarmige den Braten roch und sich nicht erst dumm stellte, sondern gleich sagte, dass das Radio überhaupt keinen Empfang hat, weil ihm die Batterie fehlt. So, so, die Batterie fehlt, hat der Schnüffler gemeint und hat das Radio dann sehen wollen. Der Einarmige hätte ihn am liebsten auf den Kranz gezerrt und hinuntergeschmissen. Aber stattdessen hat er kuschen müssen, weil er ja einen Juden versteckt.
    Der Schnüffler hat nachgesehen, ob dem Radio wirklich die Batterie fehlt. Danach hat er die Frechheit besessen, in der Türmerstube herumzuschauen, und ums Haar hätte er auch noch den Strohsack durchwühlt. Der Einarmige hätte sich das nicht gefallen lassen müssen, er hätte den Stadtpolizisten Steidle holen können. Denn er weiß doch, dass man keinen Feindsender hören darf, dafür haben sie ja schon Schüler hingerichtet, und er hat sich wirklich nichts zuschulden kommen lassen. Aber nein, Theater musste er spielen, dem Mann etwas vorwimmern musste er, dass er kein Radio mehr hören kann seit Smolensk, weil seine Buben da liegen, und das verächtliche Grinsen von dem Drecksnazi musste er sich auch noch gefallen lassen. Und ganz zuletzt - um sicherzugehen, dass der Kerl Ruhe gibt - hat er ihn gefragt, ob er das Radio nicht vielleicht brauchen kann, er würde ihm damit einen Gefallen tun.
    »Und jetzt ist das Radio von meinem Bub bei der Nazisau«, hat der Einarmige heiser geflüstert. Sein Gesicht war entstellt vom Zorn.
    Jascha musste gleich auf der Treppe sein Abendbrot essen, bevor er für die Nacht wieder ins Dach gesperrt wurde. Der Einarmige hat nicht die Nerven gehabt, ihn in den Turm zu lassen. Aber am frühen Morgen ist er gekommen und hat geknurrt, dass er sowieso nicht schlafen kann und dass ihm bald alles egal ist. Jascha ist stumm mit ihm in den Turm gegangen.
    Auch er hatte nicht geschlafen, er hatte nachgedacht. Neuerdings ist die Stadt voller Kinder. Die Jugendherberge quillt über, in Lagern sind sie untergebracht, überall wo Platz ist. Auch die Familien rücken zusammen, um Kinder aus dem Ruhrgebiet und Ausgebombte aus den Großstädten aufzunehmen. In all dem Durcheinander müsste es doch möglich sein, dass er herumläuft wie die vielen fremden Kinder auch. Er müsste nur etwas anderes zum Anziehen haben,  dann würde er überhaupt nicht auffallen. Und wo so viele satt werden, würde sicher auch für ihn etwas abfallen, und der Einarmige wäre seine Sorge los.
    Es ist schwer gewesen, bei diesen

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